Einsatz von medizinischem Cannabis bei Rheuma: Potenziale, Wirkungen und Herausforderungen
Key Facts Cannabis und Rheuma
- Traditionelle Therapie: Rheumatische Erkrankungen werden oft mit entzündungshemmenden Medikamenten (NSARs), Schmerzmitteln und Physiotherapie behandelt. Nebenwirkungen wie Magenprobleme und Nierenbelastungen sind häufig.
- Alternative Therapieoption: Cannabis enthält Cannabinoide wie THC und CBD, die u.a. entzündungshemmende und schmerzlindernde Eigenschaften besitzen sowie den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen können.
- Die Cannabistherapie kann Teil eines individuellen, ganzheitlichen Ansatzes sein, um Schmerzen zu lindern, Entzündungen zu kontrollieren und die Lebensqualität der Betroffenen zu steigern.
- Herausforderungen: Es fehlen standardisierte Produkte und klare Dosierungsrichtlinien. Zudem gibt es Wechselwirkungen mit Medikamenten wie Kortikosteroiden und NSARs, die überwacht werden müssen.
Rheuma ist ein Sammelbegriff für über 100 verschiedene entzündliche Erkrankungen, die die Gelenke, das Bindegewebe, die Muskeln und manchmal auch innere Organe betreffen. Die am weitesten verbreitete Form unter den rheumatischen Erkrankungen ist die rheumatoide Arthritis, eine Autoimmunerkrankung, die meist chronische Schmerzen, Schwellungen, Steifheit und Bewegungseinschränkungen verursacht. Daneben gibt es noch den Morbus Bechterew (Entzündung der Wirbelsäule und der Gelenke), die Psoriasis-Arthritis (Gelenkentzündung in Verbindung mit Schuppenflechte) und den systemischen Lupus erythematodes (SLE, Autoimmunerkrankung, die Haut, Gelenke und innere Organe betrifft). Neben diesen entzündlichen rheumatischen Erkrankungen gibt es auch noch degenerative rheumatische Erkrankungen (wie die Arthrose), Weichteilrheumatismus (wozu die Fibromyalgie gezählt wird und die Schleimbeutelentzündung/Bursitis) und stoffwechselbedingte rheumatische Erkrankungen (bspw. Gicht).
Traditionell werden Rheuma-Erkrankungen mit entzündungshemmenden Medikamenten, Schmerzmitteln und Physiotherapie behandelt. Die Behandlung mit schmerzlindernden Medikamenten (NSARs, z.T. auch Opiaten) und Kortikosteroide haben mitunter starke Nebenwirkungen und bewirken nicht die gewünschte Linderung. Im Zentrum der Therapie der rheumatischen Erkrankung steht stets ein ganzheitlicher Ansatz, um die Schmerzen zu lindern, die Entzündung zu kontrollieren und die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern. In den letzten Jahren ist das Interesse an Cannabis als alternative oder ergänzende Therapie gewachsen1. Doch wie effektiv ist Cannabis bei Rheuma? Welche Vorteile und Risiken bringt die Anwendung mit sich?
Cannabis: Ein Überblick
Cannabis enthält mehr als 100 verschiedene chemische Verbindungen, darunter die sogenannten Cannabinoide und Terpene. Die wichtigsten davon sind:
- THC (Tetrahydrocannabinol): Die psychoaktive Substanz, die für das "High" verantwortlich ist, aber auch schmerzlindernde und entzündungshemmende Eigenschaften hat.
- CBD (Cannabidiol): Eine nicht-psychoaktive Substanz, die ebenfalls entzündungshemmend wirkt und das Potenzial hat, Schmerzen zu lindern. Einzelne Studien weisen sogar darauf hin, dass CBD die Fähigkeit besitzt, das Gewebe von Säugetieren so zu verändern, dass die typischen Merkmale chronischer Muskel-Skelett-Erkrankungen abgeschwächt und umgekehrt werden 2.
- Terpene: Terpene arbeiten oft synergetisch mit Cannabinoiden wie THC und CBD, was als "Entourage-Effekt" bezeichnet wird. In Kombination mit bestimmten Terpenen könnte beispielsweise die Wirkung von CBD bei der Behandlung von Rheuma verstärkt werden. Doch Terpene besitzen auch eigene, vielfältige biologische Wirkungen, einschließlich entzündungshemmender (Beta-Caryophyllen, Myrcen, Limonen), antioxidativer (Terpinen-4-ol, Gamma-Terpinen) und schmerzlindernder Eigenschaften (Myrcen, Linalool, Pinene).
Cannabis bei Rheuma: Wirkmechanismen
Präklinische Daten einer britischen Forschergruppe zeigen, dass Cannabinoidrezeptoren (CB1 und CB2) im Synovialgewebe vorkommen und somit ein wichtiges therapeutisches Ziel für die Behandlung von Schmerzen und Entzündungen im Zusammenhang mit Arthrose und rheumatischer Arthritis sein könnten 3.
Die Forschung zeigt außerdem, dass Cannabis durch mehrere Mechanismen bei der Behandlung von Rheuma hilfreich sein kann:
- Schmerzlinderung: Sowohl THC als auch CBD wirken schmerzlindernd, indem sie an die körpereigenen Cannabinoidrezeptoren binden. Diese Rezeptoren befinden sich vor allem im Nerven- und Immunsystem und sind an der Schmerzregulation beteiligt 4.
- Entzündungshemmung: CBD hat nachweislich entzündungshemmende Eigenschaften. Studien legen nahe, dass CBD die Freisetzung von entzündungsfördernden Zytokinen und Stickstoffmonoxid hemmen kann 5, die bei rheumatoider Arthritis eine zentrale Rolle spielen. Zudem kann es die Aktivität von synovialen Fibroblasten eindämmen; Zellen, die mit einem Fortschreiten der Entzündung bzw. Erkrankung verbunden sind 6. Auch das ebenfalls nicht-psychoaktive CBG scheint anti-entzündliche Effekte zu vermitteln, indem es zusätzlich die Menge an Autoantikörpern reduziert 7.
- Verbesserung des Schlafs: Viele Rheumapatient:innen leiden unter Schlafstörungen aufgrund chronischer Schmerzen. Cannabis kann helfen, den Schlaf zu verbessern, indem es Entspannung fördert und die Schmerzen reduziert.
Studienlage: Wie wirksam ist Cannabis bei Rheuma?
Die wissenschaftliche Forschung mit Patient:innen zu Cannabis bei rheumatischen Erkrankungen steckt noch in den Kinderschuhen. Allerdings haben fast alle bisher analysierten Studien gezeigt, dass Medizinalcannabis wirksam zur Behandlung von Symptomen rheumatischer Erkrankungen zu sein scheint, wobei einige wenige Nebenwirkungen während der Beobachtungen festgestellt wurden.
Eine Übersichtsarbeit von Forscher:innnen aus Frankreich stellt die Ergebnisse bisher veröffentlichter Studien zum Einsatz von Cannabis bei rheumatischen Erkrankungen zusammen 8. Dabei zeigte sich, dass einer von sechs Rheuma-Patient:innen cannabinoidhaltige Arzneimittel vornehmlich zur Schmerzreduktion, aber auch zur Angstlösung und Behandlung von Schlafstörungen einsetzt.
Bereits im Jahr 2006 wurde in Großbritannien eine Placebo-kontrollierte, doppelblinde, randomisierte Studie durchgeführt 9. Im Vergleich zu Placebo führte medizinisches Cannabis zu statistisch signifikanten Verbesserungen der Schmerzen bei Bewegung, der Schmerzen in Ruhe und der Schlafqualität bei Patient:innen mit rheumatoider Arthritis. Die überwiegende Mehrheit der unerwünschten Wirkungen (Schwindel, Kopfschmerzen und Mundtrockenheit) war leicht oder mäßig ausgeprägt, und es gab keine nebenwirkungsbedingten Abbrüche oder schwerwiegende unerwünschte Wirkungen in der aktiven Behandlungsgruppe.
In einer anonymen Umfrage mit 428 Teilnehmenden wurden die wahrgenommenen Effekte von CBD auf die Symptome der Arthritis untersucht 10. Die Verwendung von CBD wurde auch hier mit einer Verbesserung von Schmerzen (83 %), der körperlichen Funktion (66 %) und Schlafqualität (66 %) in Verbindung gebracht. Eine Untergruppenanalyse ergab, dass die Gruppe der Osteoarthritis-Patient:innen signifikant bessere Ergebnisse in Bezug auf die körperliche Funktion zeigte. Die gesamte Kohorte berichtete über eine durchschnittliche Schmerzreduktion von 44 % nach der Anwendung von CBD. Zudem gaben 60,5 % der Befragten eine Reduktion oder ein Absetzen anderer Medikamente an, darunter Entzündungshemmer (31 %), Paracetamol (18 %) und Opioide (9 %).
In einer Sekundäranalyse einer Querschnittserhebung, die in Zusammenarbeit mit Patientenverbänden in den USA und Kanada durchgeführt wurde, wurde die Verwendung von medizinischem Cannabis und die Substitution von Medikamenten bei Menschen mit rheumatischen Erkrankungen untersucht 11. Von den 763 Teilnehmenden gaben 63 % an, Medikamente durch Cannabis-Produkte zu ersetzen, darunter nichtsteroidale Antirheumatika (55 %), Opioide (49 %), Schlafmittel (30 %) und Muskelrelaxantien (25 %). Die Hauptgründe für die Substitution waren weniger unerwünschte Wirkungen, ein besseres Symptommanagement und die Sorge vor Entzugssymptomen. Die Substitution ging mit einer signifikant höheren Symptomverbesserung (einschließlich Schmerzen, Schlaf, Angst und Gelenksteifigkeit) einher als die Nicht-Substitution.
Eine weitere Befragung von 103 Patient:innen mit Daumengrundgelenkarthrose kam zu ähnlichen Ergebnissen 12. 25 % gaben an, in der Vergangenheit medizinisches Cannabis oral eingenommen zu haben, und 21 % berichteten über die topische Anwendung von medizinischem Cannabis. Knapp die Hälfte der Befragten war der Meinung, dass medizinisches Cannabis bei der Schmerzlinderung wirksam war.
An der rheumatologischen Klinik in Ontario wurden 799 Patient:innen hinsichtlich ihrer Cannabiseinnahme befragt 13. 163 von ihnen gaben an, derzeit oder seit weniger als 2 Jahren medizinisches Cannabis einzunehmen. Schmerzen (96 %), Schlafstörungen (82 %) und Angstzustände (59 %) waren die am häufigsten behandelten Symptome.
Die Forscher:innen um de Carvalho kommen in ihrer aktuell publizierten Übersichtsarbeit von 2024 zum gleichen Fazit 14. Medizinisches Cannabis kann bei Fibromyalgie-Patient:innen zu einer deutlichen Verringerung der Schmerzen und zu einer Verbesserung von Schlaf und Stimmung führen. Bei rheumatoider Arthritis zeigt sich zudem eine Verringerung der Entzündungsparameter. Darüber hinaus sind in der Literatur auch Belege für positive Effekte bei anderen rheumatischen Erkrankungen (Sklerodermie, Hautfibrose, Dermatomyositis, Osteoarthritis) zu finden. Mehrere Erhebungen über die allgemeine Verwendung von Cannabis zeigten, dass rheumatologische Patient:innen Cannabis auch ohne ärztliche Aufsicht verwenden. Dies unterstreicht einmal mehr die notwendige Aufklärung, damit die Cannabistherapie im Rahmen einer vertrauensvollen Patienten-Arzt-Beziehung überwacht wird, um auch die damit verbundenen Herausforderungen zu meistern.
Herausforderungen
Die meisten Rheumatolog:innen geben an, dass es ihnen unangenehm ist, medizinisches Cannabis zu verordnen, was in erster Linie auf den Mangel an Beweisen, Wissen und Produktstandardisierung zurückzuführen ist.
Es fehlt an qualitativ hochwertigen, Placebo-kontrollierten Studien, um klare Aussagen über die Wirksamkeit einer cannabis-basierten Therapie bei rheumatischen Erkrankungen treffen zu können. Zudem stellt die patienten-individuelle Entwicklung der Cannabistherapie eine zusätzliche Herausforderung dar, wenngleich auch hierin eine große Chance für alle Patient:innen liegt, die mit ihrer bisherigen Therapie keine ausreichende Linderung erzielen konnten.
Ein weiteres Problem ist die fehlende Standardisierung. Da die Konzentrationen von THC und CBD in verschiedenen Produkten stark variieren, ist es für Patient:innen oft eine Herausforderung, die richtige Dosierung zu finden. Zudem gibt es bisher keinen klaren Leitfaden für die Anwendung von Cannabis bei Rheuma, was die Therapie komplex macht.
Neben den positiven Auswirkungen der Cannabistherapie sollten auch die möglichen Wechselwirkungen zwischen Cannabinoiden und anderen Medikamenten beachtet werden. Beispielsweise führt die gleichzeitige Gabe von Kortikosteroiden zu einer verringerten Clearance der Steroide und somit verstärkten systemischen Wirkungen infolge der CYP3A-Inhibierung durch die Cannabinoide [15]. Ähnlich führt die Hemmung von CYP2C9, CYP3A4 und CYP2C19 zu erhöhten Mengen an NSARs und Tofacitinib 15, wodurch gegebenenfalls eine Dosisanpassung nötig ist.
Fazit: Cannabis als ergänzende Option bei Rheuma
Cannabis kann für manche Rheumapatient:innen eine wertvolle Ergänzung zu herkömmlichen Behandlungsansätzen sein, insbesondere bei der Schmerzlinderung und der Verbesserung der Lebensqualität. Die entzündungshemmenden Eigenschaften von CBD bieten zusätzlich Potenzial, obwohl weitere Studien erforderlich sind, um diese Effekte klar zu belegen.
Insgesamt zeigt sich, dass der Einsatz von Cannabis bei Rheuma insbesondere zur Schmerzlinderung und Entzündungshemmung vielversprechend ist, aber noch weiterer Forschung bedarf, um die genauen Mechanismen und langfristigen Wirkungen zu verstehen.
Quellen
[1] Fitzcharles MA, Niaki OZ, Hauser W, Hazlewood G; Canadian Rheumatology Association. Position Statement: A Pragmatic Approach for Medical Cannabis and Patients with Rheumatic Diseases. J Rheumatol. 2019 May;46(5):532-538.
[2] Marques Azzini GO, Marques Azzini VO, Santos GS, Visoni S, Fusco MA, Beker NS, Mahmood A, Bizinotto Lana JV, Jeyaraman M, Nallakumarasamy A, Jeyaraman N, da Fonseca LF, Luz Arab MG, Vicente R, Rajendran RL, Gangadaran P, Ahn BC, Duarte Lana JFS. Cannabidiol for musculoskeletal regenerative medicine. Exp Biol Med (Maywood). 2023 May;248(5):445-455.
[3]Richardson D, Pearson RG, Kurian N, Latif ML, Garle MJ, Barrett DA, Kendall DA, Scammell BE, Reeve AJ, Chapman V. Characterisation of the cannabinoid receptor system in synovial tissue and fluid in patients with osteoarthritis and rheumatoid arthritis. Arthritis Res Ther. 2008;10(2):R43.
[4] Lowin T, Schneider M, Pongratz G. Joints for joints: cannabinoids in the treatment of rheumatoid arthritis. Curr Opin Rheumatol. 2019 May;31(3):271-278.
[5] Rodríguez Mesa XM, Moreno Vergara AF, Contreras Bolaños LA, Guevara Moriones N, Mejía Piñeros AL, Santander González SP. Therapeutic Prospects of Cannabinoids in the Immunomodulation of Prevalent Autoimmune Diseases. Cannabis Cannabinoid Res. 2021 Jun;6(3):196-210.
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[7] Lowin T, Tigges-Perez MS, Constant E, Pongratz G. Anti-Inflammatory Effects of Cannabigerol in Rheumatoid Arthritis Synovial Fibroblasts and Peripheral Blood Mononuclear Cell Cultures Are Partly Mediated by TRPA1. Int J Mol Sci. 2023 Jan 3;24(1):855.
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[14] de Carvalho JF, Ribeiro MFLDS, Skare T. Cannabis therapy in rheumatological diseases: A systematic review. North Clin Istanb. 2024 Jul 22;11(4):361-366.
[15] Jain N, Moorthy A. Cannabinoids in rheumatology: Friend, foe or a bystander? Musculoskeletal Care. 2022 Jun;20(2):416-428.