Medizinischem Cannabis und das Fibromyalgiesyndrom | GH Academy

Das Fibromyalgiesyndrom ist eine chronische Schmerzerkrankung, die ca. 2 bis 5 % der Menschen betrifft. Diese Krankheit verursacht starke Schmerzen in verschiedenen Körperregionen, häufig in der Nähe von Muskeln und Gelenken1. Meist ist auch die Wirbelsäule betroffen, weshalb Patient:innen nicht selten zu Beginn ihrer Erkrankung von starken Rückenschmerzen berichten. Frauen sind durchschnittlich sechs bis sieben Mal häufiger betroffen als Männer1. Die genauen, medizinischen Ursachen der Fibromyalgie sind bis heute unklar. Es können weder Verletzungen an Gelenken und Muskeln noch Veränderungen im Blut nachgewiesen werden, wodurch die Diagnose deutlich erschwert wird. Als mögliche Ursachen werden eine gestörte Schmerzverarbeitung, traumatische Erlebnisse, genetische Veränderungen oder veränderte Nervenfasern diskutiert. Die Fibromyalgie kann auch infolge einer anderen Erkrankung auftreten (Sekundärerkrankung), etwa der rheumatoiden Arthritis1. Aktuelle Forschungen beschäftigen sich damit, ob biochemische oder neurologische Störungen bei der Entstehung eine Rolle spielen.

Bis zur Diagnose der Fibromyalgie vergeht meist eine lange Zeit. Dies liegt nicht zuletzt auch an der Vielschichtigkeit dieser Erkrankung. Neben den starken Schmerzen berichten Betroffene häufig von Schlafstörungen und damit verbundenen Erschöpfungszuständen, Unruhe, Angstgefühlen, Niedergeschlagenheit bis hin zu Depressionen. Weitere Symptome können auch Magen- und Darmbeschwerden, kognitive Beeinträchtigungen wie Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen, Herzrasen, Gefühlsstörungen an Händen und Füßen sowie eine allgemein erhöhte Schmerzempfindlichkeit und Druck auf der Haut beinhalten.

Die aktuelle Schulmedizin sieht eine Behandlung mit schmerzlindernden Medikamenten (bspw. Opiaten), Antidepressiva sowie Antikonvulsiva in Kombination mit Physiotherapie vor. Viele Betroffene berichten jedoch, dass die Schmerzmittel kaum Linderung bringen bzw. unerwünschte Nebenwirkungen auftreten, die ebenso belastend und einschränkend sind. Daher suchen Forscher:innen seit Jahren nach alternativen Therapieansätzen. In diesem Rahmen wurde auch eine Therapie mit medizinischem Cannabis in Erwägung gezogen.

Rolle des Endocannabinoidsystems bei Fibromyalgie

Das körpereigene Endocannabinoidsystem ist an zahlreichen Steuerungsprozessen im Körper beteiligt. Darunter befinden sich vor allem Prozesse wie das Schmerzempfinden, Entzündungen, Emotionen und Schlaf. Bei Bedarf ist der Organismus in der Lage, verschiedene körpereigene Cannabinoide (Endocannabinoide) selbst zu produzieren. Diese Endocannabinoide sind dabei den Cannabinoiden aus dem Medizinalcannabis sehr ähnlich.

Forscher:innen vermuten, dass ein Mangel an Endocannabinoiden das natürliche Gleichgewicht stört und somit die Funktionen des Endocannabinoidsystems einschränkt. Dadurch könnte die Entstehung von verschiedenen Krankheiten begünstigt werden. In Studien fanden sich Hinweise darauf, dass im Liquor von Migräne- und Fibromyalgie-Patient:innen eine Endocannabinoid-Unterfunktion vorliegen könnte2. Analysen zeigten, dass die Anandamid-Konzentration bei den Proband:innen verringert war und somit ein Hinweis auf ein dysfunktionales Endocannabinoidsystem gegeben ist.

Somit liegt es nahe, dass die Gabe von Cannabinoiden diesen Endocannabinoid-Mangel ausgleichen und folglich auch die Fibromyalgie-Symptome lindern könnte3.

Aktuelle Studienlage

Es gibt bereits einige präklinische und klinische Studien, die die Wirksamkeit und Verträglichkeit von Medizinalcannabis bei der Behandlung von Fibromyalgie nahelegen3.

Forscher:innen der britischen Medical Cannabis Research Group an der Abteilung für Chirurgie und Krebs am Imperial College in London veröffentlichten kürzlich Daten von 306 Fibromyalgie-Patient:innen5. Die Proband:innen berichteten von ihren Symptomen zu Beginn der Therapie sowie nach einem, drei, sechs und zwölf Monaten. Die mittlere THC-Dosis lag nach der Titrierungsphase bei 100 mg pro Tag, die mittlere CBD-Dosis bei 20 mg pro Tag. Verwendet wurde entweder ein Cannabisextrakt oder Cannabisblüten mit 19 % THC-Gehalt. Die Behandlung mit Cannabis führte zu einer globalen gesundheitsbezogenen Verbesserung der Lebensqualität. Eine signifikante Verbesserung trat bereits nach ein-monatiger Therapie beim Schweregrad der Fibromyalgie-Symptome, der Schlafqualität und beim Schmerzscore ein. Diejenigen Patient:innen, die bereits über früheren Cannabiskonsum berichteten, zeigten dabei stärkere Effekte als Cannabis-unerfahrene Patient:innen.

In einer israelischen Beobachtungsstudie mit 367 Proband:innen wurde gezeigt, dass der durchschnittliche Schmerzscore von 9,0 auf 5,0 durch die Einnahme von medizinischem Cannabis reduziert werden konnte4. Nach einer Titrierungsphase betrug die tägliche Einnahme im Durchschnitt 140 mg THC und 39 mg CBD. Nach sechs-monatiger Therapie berichteten 81 % der Patient:innen von einer moderaten bis signifikanten Verbesserung, vor allem in Bezug auf die Schmerzintensität, Schlafstörungen und Depression-bedingte Symptome. 22 % der Studienteilnehmenden konnten ihre Opiat-Dosis reduzieren oder vollständig absetzen und 20 % die Dosis der Benzodiazepine reduzieren. Die Forscher:innen schlussfolgerten, dass die Cannabis-Therapie einen effektiven und sicheren Ansatz darstellt. In Anbetracht der geringen Abhängigkeitsrate und ausbleibenden schwerwiegenden unerwünschten Wirkungen (insbesondere im Vergleich zu Opioiden), sollte eine Cannabistherapie in Betracht gezogen werden, um die Symptomlast bei Fibromyalgie-Patienten zu lindern, speziell bei denen, die auf die Standardbehandlung nicht ansprechen.

Eine Beobachtungsstudie aus dem Jahr 2020 untersuchte die Wirksamkeit von Medizinalcannabis zur Behandlung von Fibromyalgie an 102 Patient:innen mit einem VAS-Score von über 4 über einen Zeitraum von sechs Monaten6. Die Studienteilnehmenden erhielten zusätzlich zur ihrer Standardmedikation zwei Cannabisextrakte: entweder Bedrocan (22 % THC, < 1 % CBD) oder Bediol (6,3 % THC, 8 % CBD). Die Verbleibquote nach sechs Monaten betrug 64 %. Eine signifikante Verbesserung der Schlafqualität und der funktionellen Beeinträchtigung wurden bei 44 % bzw. 33 % der Patient:innen beobachtet. 50 % der Teilnehmenden zeigten eine mäßige Verbesserung der Angst- und Depressionsskalen. Bei 47 % der Patient:innen wurde die begleitende Analgetika-Behandlung reduziert oder ausgesetzt. Bei einem Drittel der Patient:innen traten leichte unerwünschte Nebenwirkungen (wie trockener Mund, Schwindel und Müdigkeit) auf, die keine wesentlichen Änderungen der Behandlung zur Folge hatten. Die Forscher resümierten, dass sich der Einsatz von Medizinalcannabis bei Fibromyalgie-Patient:innen vor allem positiv auf die Schlafqualität auswirken kann. Die Dosis-Reduzierung der Analgetika kann zudem eine deutliche Verbesserung der Lebensqualität nach sich ziehen.

Eine Online-Umfrage befasste sich ebenfalls mit der Substitution von Schmerzmitteln durch CBD-Produkte7. Insgesamt nahmen 878 Fibromyalgie-Patient:innen teil, wobei 72 % der Befragten angaben, ihre Schmerzmedikation (NSAIDs, Opioide, Gabapentin und Benzodiazepine) durch CBD-Produkte zu ersetzen. Die Mehrheit konnte die Schmerzmittel reduzieren bzw. sogar vollständig absetzen. Die häufigsten Gründe für die Substitution waren weniger Nebenwirkungen und ein besseres Symptommanagement. Die Behandlung mit CBD-Produkten führte zu einer signifikant stärkeren Symptomlinderung als die Behandlung ohne CBD. Darüber hinaus erzielten Produkte mit einem zusätzlichen THC-Gehalt von weniger als 0,3 % die größte Linderung der Symptome. Die Forscher kamen zu dem Schluss, dass das aufgezeigte medikamentenschonende und therapeutische Potenzial von CBD in strengeren Studiendesigns untersucht werden sollte.

Eine brasilianische Arbeitsgruppe untersuchte in einer doppelblinden, randomisierten klinischen Studie, die Wirksamkeit von THC-reichem Cannabis-Extrakt (24,44 mg/ml THC und 0,51 mg/ml CBD) an 17 Fibromyalgie-Patientinnen8. Nach dem acht-wöchigen Untersuchungszeitraum zeigte die Cannabisgruppe eine signifikante Verbesserung der Fibromyalgie-Symptome im Vergleich zur Plazebo-Gruppe. Vor allem die Werte für Wohlbefinden, Schmerzen, Arbeitsfähigkeit und Müdigkeit waren signifikant höher. Durchschnittlich nahmen die Probandinnen 3,6 Tropfen Extrakt, entsprechend 4,4 mg THC und 0,08 mg CBD, täglich ein.

Fazit

Die Fibromyalgie bedeutet für die Betroffenen meist große Einschränkungen im Alltag. Aufgrund der starken, diffusen Schmerzen, Erschöpfung, Schlafstörungen und psychischen Belastung sind die Patient:innen meist kaum in der Lage ein geregeltes Leben zu führen. Der Leidensdruck ist sehr hoch und die aktuellen Therapieoptionen beschränkt. Einige Studien konnten bereits die positive Wirkung von medizinischem Cannabis auf die Symptomausprägung zeigen. Nach wie vor fehlen qualitativ hochwertige klinische Studien zur Anwendung von Medizinalcannabis. Nichtsdestotrotz konnte vor allem eine begleitende Therapie mit Cannabis-basierten Medikamenten die Symptomlinderung sowie die Schlaf- und Lebensqualität deutlich verbessern. Nicht zuletzt bietet die Cannabis-induzierte Dosisreduktion herkömmlicher Medikamente ein zusätzliches Potenzial, um auftretende Nebenwirkungen dieser Medikamente abzuschwächen.

Zukünftige Studien sollten den Vergleich konventioneller Therapieansätze und den der Cannabis-Therapie fokussieren, um den Nutzen und das Potenzial von Medizinalcannabis zur Behandlung des Fibromyalgiesyndroms näher zu beleuchten.

Quellenangabe:

1 https://www.rheuma-liga.de/rheuma/krankheitsbilder/fibromyalgie
2 Russo E. B. (2016). Clinical Endocannabinoid Deficiency Reconsidered: Current Research Supports the Theory in Migraine, Fibromyalgia, Irritable Bowel, and Other Treatment-Resistant Syndromes. Cannabis and cannabinoid research, 1(1), 154–165.
3 Bourke, S. L., Schlag, A. K., O'Sullivan, S. E., Nutt, D. J., &amp; Finn, D. P. (2022). Cannabinoids and the endocannabinoid system in fibromyalgia: A review of preclinical and clinical research. Pharmacology &amp; therapeutics, 240, 108216.
4 Sagy, I., Bar-Lev Schleider, L., Abu-Shakra, M., &amp; Novack, V. (2019). Safety and Efficacy of Medical Cannabis in Fibromyalgia. Journal of clinical medicine, 8(6), 807.
5 Wang, C., Erridge, S., Holvey, C., Coomber, R., Usmani, A., Sajad, M., Guru, R., Holden, W., Rucker, J. J., Platt, M. W., &amp; Sodergren, M. H. (2023). Assessment of clinical outcomes in patients with fibromyalgia: Analysis from the UK Medical Cannabis Registry. Brain and behavior, e3072. Advance online publication.
6 Giorgi, V., Bongiovanni, S., Atzeni, F., Marotto, D., Salaffi, F., &amp; Sarzi-Puttini, P. (2020). Adding medical cannabis to standard analgesic treatment for fibromyalgia: a prospective observational study. Clinical and experimental rheumatology, 38 Suppl 123(1), 53–59.
7 Boehnke, K. F., Gagnier, J. J., Matallana, L., &amp; Williams, D. A. (2021). Substituting Cannabidiol for Opioids and Pain Medications Among Individuals With Fibromyalgia: A Large Online Survey. The journal of pain, 22(11), 1418–1428.
8 Chaves, C., Bittencourt, P. C. T., &amp; Pelegrini, A. (2020). Ingestion of a THC-Rich Cannabis Oil in People with Fibromyalgia: A Randomized, Double-Blind, Placebo-Controlled Clinical Trial. Pain medicine (Malden, Mass.), 21(10), 2212–2218.

Autor: Dr. Nadine Herwig
Dr. Nadine Herwig - Leiterin Grünhorn Academy
Dr. Nadine Herwig studierte von 2006 bis 2010 Angewandte Naturwissenschaften an der Technischen Universität Bergakademie Freiberg. Ihre Promotion führte sie am Helmholtz-Zentrum in Dresden-Rossendorf am Institut für Radiopharmazie durch. Zu ihren bislang publizierten wissenschaftlichen Arbeiten gehören u. a. Originalartikel auf dem Gebiet der Hautkrebsforschung und der Biomarker.