Krebs ist eine Erkrankung, die ungefähr 40 % der Menschen im Laufe ihres Lebens betrifft. Bezüglich des möglichen Einsatzes von
Medizinalcannabis im onkologischen Bereich, muss zwischen der symptomatischen
Therapie einerseits und der krebshemmenden Eigenschaft der Cannabinoide andererseits unterschieden werden.
Die klassische Therapieoption der Chemotherapie ist meist mit vielen Nebenwirkungen verbunden. Cannabinoide können an dieser Stelle die typischen Begleiterscheinungen wie Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Schmerzen, Depressionen und Angstzustände lindern. Darüber hinaus haben Cannabinoide das
Potenzial zusammen mit anderen Substanzen das Tumorwachstum einzudämmen. Zwar existieren bereits einige Zell- oder Tier-basierte Studien und Erfahrungsberichte von Krebspatientinnen und -patienten sowie
Ärztinnen und Ärzten, jedoch ist die Evidenzlage zum Einsatz bei Tumorerkrankungen unzureichend. Gemäß der aktuellen Leitlinie
1 vom CAM Cancer und dem Kompetenznetz Komplementärmedizin in der Onkologie (KOKON) zeigen medizinisches Cannabis und Cannabinoide in randomisierten Interventionsstudien:
- eine leichte Verstärkung der Wirkung von antiemetischen Standardtherapeutika
- keine bis eine leichte appetitsteigernde Wirkung
- eine mögliche Verbesserung von Geschmacksstörungen und
- eine leichte analgetische Wirkung bei neuropathischen Schmerzen.
Seit 2015 ist Nabilon, ein vollsynthetisches THC-Derivat, in Deutschland und Österreich unter dem Namen Canemes als Antiemetikum bei Übelkeit und Erbrechen unter Zytostatika oder Bestrahlungstherapie im Rahmen einer Krebstherapie zugelassen. Es darf jedoch nur eingesetzt werden, wenn die Patientin bzw. der Patient auf andere antiemetische Behandlungen nicht anspricht.
Der folgende Beitrag beleuchtet den aktuellen Stand der Forschung und spiegelt die Rolle des Endocannabinoidsystems im onkologischen Zusammenhang wider.
Rolle des Endocannabinoidsystems
In Untersuchungen konnte bereits gezeigt werden, das metabolische Lipid-Veränderungen an der Entstehung und Progression bösartiger Erkrankungen beteiligt sind. Lipide sind an der Steuerung einer Vielzahl von Signalwegen im Körper involviert. Ebenso ist die Bildung von Endocannabinoiden an den Lipid-Stoffwechsel gekoppelt2. In einer Studie aus dem Jahr 2014 wurde gezeigt, dass das Endocannabinoidsystem (ECS) an der Pathophysiologie des Melanoms beteiligt ist3. Die Serumlevel der Endocannabinoide, Anandamid und 2-Arachidonylglycerol, waren verändert. Ähnliche Ergebnisse wurden in anderen Studien mit tumorösem Kolorektal-, Lungen-, Brust- und Gehirngewebe erzielt2. Neben den Konzentrationsveränderungen der Endocannabinoide sind auch die Expression der Cannabinoidrezeptoren 1 und 2 (CB1 und CB2) sowie zahlreiche Signalwege und Enzyme des ECS bei verschiedenen Tumorerkrankungen dysreguliert2. Alle diese biochemischen Veränderungen sind an der Ausbildung der Tumormerkmale direkt oder indirekt beteiligt. So werden die Prozesse der Autophagie, Apoptose, Inflammation, Proliferation, Angiogenese und Metastasierung entscheidend durch das ECS beeinflusst2. Bei In-vitro-Untersuchungen bewirkten CBD und CBG die Einleitung der Apoptose von Tumorzellen und eine Verlangsamung ihres Wachstums sowie ihrer Invasions- und Wanderungsfähigkeit4. Des Weiteren konnte gezeigt werden, dass das ECS in der Lage ist, die Knochenmetastasierung von Brustkrebszellen zu erschweren, indem es die Interaktion zwischen Krebs- und Knochenzellen hemmt und das Wachstum der Krebszellen vermindert5. In einer In-vivo-Untersuchung wurden menschliche Adenokarzinomzellen auf Mäuse transplantiert. Mithilfe einer Behandlung mit einem Cannabisextrakt konnte ein Anstieg der Apoptose und eine verminderte Proliferation der Krebszellen nachgewiesen werden8. In einer weiteren präklinischen Studie konnte durch den Einsatz eines CB1-Agonisten und daraus resultierende Aktivierung des CB1-Rezeptors das Tumorwachstum in vitro und in vivo verringert werden9. Als Ursache für diesen Effekt identifizierten die Forscher eine Herunterregulierung des EGFR-Proteins, welches eine entscheidende Rolle beim Wachstum von Tumorzellen spielt.
Trotz einiger vielversprechenden Ergebnisse präklinischer Studien konnten diese Ergebnisse bisher nicht in klinischen bzw. Patienten-basierten Studien bestätigt werden. Daher braucht es weitere Untersuchungen, um wissenschaftlich begründete Aussagen zur therapeutischen Wirksamkeit von Medizinalcannabis in der Onkologie treffen zu können.
Einsatz von Medizinalcannabis bei Krebserkrankungen
In eine prospektive Studie aus Israel aus dem Jahr 2018 wurden 2970 Krebspatientinnen und -patienten unterschiedlicher Tumorentitäten eingeschlossen
7. Von den ausgewerteten 1211 Patientinnen und Patienten berichteten 95,5 % eine Verbesserung ihrer Symptome. 3,7 % der Anwendenden verspürten keine Veränderungen und 0,3 % nahmen eine Verschlechterung wahr.
Der Zwischenbericht der BfArM-Begleiterhebung
6 aus dem Jahr 2019 lieferte erste Zahlen aus Deutschland zur Verschreibung von Cannabis im onkologischen Zusammenhang: Bei 1034 Patientinnen und Patienten (25 %) lag eine bösartige Neubildung vor. Am häufigsten wurde
Dronabinol (80 %) verschrieben, gefolgt von
Cannabisblüten (11 %) und Sativex® (5 %). Ziel der Cannabistherapie war bei 49 % der Behandelten eine Schmerzlinderung sowie eine Linderung der Anorexie/Wasting (27 %),
Spastik (2 %), Übelkeit/Erbrechen (13 %) bzw. eine Behandlung der unspezifischen Symptome wie Schlafstörungen, Unruhe, Anspannung, Fatigue und Appetitmangel (10 %). Der Therapieerfolg wurde dabei als moderat verbessert bis deutlich verbessert (Übelkeit/Erbrechen) von den Tumorpatientinnen und -patienten eingeschätzt.
Eine aktuelle Beobachtungsstudie der Harvard Medcial School in Boston, USA, zeigt, dass eine anhaltende Cannabiseinnahme die Schmerzintensität und Schmerzstörung, die Schlafqualität sowie die subjektiven kognitiven Funktionen der Krebspatientinnen und -patienten verbesserte. Die allgemeine Lebensqualität wurde jedoch nicht verändert
17.
In einer britischen Studie konnte zudem gezeigt werden, dass Krebszellen durch den Einsatz von CBD empfindlicher gegenüber Chemotherapeutika werden
10. Die Arbeitsgruppe schlussfolgert, dass CBD dazu führen könnte, dass eine niedrigere Dosis der Chemotherapeutika ausreicht. Darüber hinaus zeigte eine Studie an Glioblastomzellen, dass der Einsatz von THC und CBD die Strahlensensitivität der Zellen erhöhte
11. Sowohl die verringerte
Dosis der Chemotherapeutika als auch die geringere Strahlenbelastung können das Auftreten von Nebenwirkungen entscheidend reduzieren und somit die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten verbessern.
Weitere Beobachtungsstudien konnten die unterstützenden bzw. Symptom-lindernden Effekte der Cannabinoide bereits bestätigen. In einer prospektiven Studie mit 324 Krebspatientinnen und -patienten berichteten die meisten von einer signifikanten Verbesserung der Gesamtbelastung
12. Zudem wurde die Cannabisbehandlung insgesamt gut vertragen. In einer weiteren Studie mit 46 Patientinnen und Patienten konnten die Forschenden zeigen, dass THC chemo-sensorische Veränderungen linderte und den Nahrungsgenuss der Krebsleidenden verbesserte
13. Weitere 30 Krebspatientinnen und -patienten wurden in einer randomisierten, kontrollierten Interventionsstudie eingeschlossen
14. Dabei zeigt sich, dass medizinisches Cannabis insbesondere als Begleitmedikation zur onkologischen Standardtherapie gut geeignet ist. Die als sicher beschriebene Cannabistherapie wurde gut vertragen und führte zu einer verbesserten Schmerzkontrolle in Kombination mit geringeren Opioid-Dosen. Eine Übersichtsarbeit von Vinette und seinen Mitarbeitenden wertete 62 primäre Studien aus und kam zu dem Ergebnis, dass Medizinalcannabis vor allem zur Behandlung von Schmerz, refraktorischer Übelkeit und Erbrechen und zur Verbesserung von Appetit und Nahrungsaufnahme eingesetzt wird
15. In mehr als der Hälfte der ausgewerteten Studien wurde zudem von einer allgemeinen Verbesserung der Lebensqualität berichtet. Ebenso wurde in einer weiteren Studie durch den Einsatz von Cannabis eine Verbesserung der Schlaf- und Lebensqualität erzielt
16.
Fazit
Medizinalcannabis zeigte bereits gute
Wirksamkeit und Verträglichkeit bei der Linderung Chemotherapie-induzierter Symptome wie Übelkeit, Erbrechen und Appetitlosigkeit. Darüber hinaus linderte es Schmerzen und verbesserte die Schlaf- und Lebensqualität. Nicht zuletzt auch aufgrund seiner angstlösenden, antidepressiven Effekte wäre es wünschenswert, dass über die Aufnahme von medizinischem Cannabis in die Leitlinien zu Behandlung von bösartigen Neubildungen diskutiert bzw. entschieden wird.
Cannabis als palliative Begleitmedikation zur Behandlung von Krebspatientinnen und -patienten scheint eine gut verträgliche, wirksame und sichere Option zu sein. In diesem Bereich ist die Therapie mit cannabisbasierten Medikamenten weitestgehend akzeptiert.
Anders sieht es beim Einsatz von Cannabis zur Krebshemmung aus. Obwohl Cannabinoide in einigen präklinischen Studien ebenfalls vielversprechende Ergebnisse als Anti-Krebs-Agenten zeigten, sind weiterführende, umfassende klinische Studien nötig, um weitere Erkenntnisse zum Mechanismus und zur Wirksamkeit zu erhalten. Zudem sollte vor allem die
Wechselwirkung mit eingesetzten Chemotherapeutika in zukünftigen Untersuchungen näher beachtet werden. Eine genauere Kenntnis über die biochemischen Mechanismen, wie Cannabinoide und das ECS bei Tumorentstehung und -wachstum beteiligt sind, würde weitere Begründungen für einen sinnvollen Einsatz von Cannabis in der Onkologie liefern.
Nichtsdestotrotz bietet die Cannabistherapie bereits jetzt eine gute Option, die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten zu verbessern und die Krebstherapie begleitend zu unterstützen.
Quellen:
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