Opioid-Reduktion durch den Einsatz von Medizinalcannabis | GH Academy

Kaum ein anderes Thema wird zurzeit im Zusammenhang mit Medizinalcannabis derartig kontrovers diskutiert, wie die Reduktion von Opioid durch die Gabe von Cannabis. Ein Blick in die USA beunruhigt auch viele Mediziner hierzulande. Dort spricht man aufgrund der hohen Zahl an Sterbefällen in Zusammenhang mit einer Opiat-Überdosis bereits von einer Opioid-Epidemie. Auch in Deutschland werden Opiate als Schmerzmittel verordnet: in erster Linie nach Operationen und bei Tumorschmerzen. Problematisch ist jedoch die Zahl an Verordnungen bei nicht-tumorbedingten Erkrankungen. Gemäß des Opioid-Reports der Uni Bremen aus dem Jahr 2022 stiegen die verordneten Tagesdosen in den letzten Jahren leicht, aber kontinuierlich an. Opioide wurden vor allem bei Rückenbeschwerden, Arthrose, Osteoporose oder Polyneuropathie verschrieben1. Die DEGAM S1-Handlungsempfehlung für chronische Schmerz-Patienten sieht auch bei mindestens drei Monate anhaltenden Schmerzen nicht tumor-bedingter Ursache unter anderem den Einsatz von schwachen bzw. starken Opiaten vor. Damit verbunden sind jedoch zum Teil erhebliche Nebenwirkungen wie Schwindel, Übelkeit, Erbrechen, Leberschäden, Atemschwierigkeiten, Leistungsminderung, Depressionen aber auch Missbrauchs- und Abhängigkeitsrisiken. Doch insbesondere im Bereich der chronischen Schmerzen und Nervenschmerzen kann Medizinalcannabis eine gute Ergänzung bzw. Alternative sein.

Ähnliche biochemische Wirkungen

Opiat- und Cannabinoid-Rezeptoren sind in ähnlichen anatomischen Bereichen bzw. Regionen zu finden, die zumeist an der Schmerzlinderung beteiligt sind2. Beides sind G-Protein-gekoppelte Rezeptoren mit ähnlichen nachgeschalteten intrazellulären Signalwegen. Aufgrund ihrer biochemischen Wirkweisen liegt eine synergistische Interaktion zwischen Cannabinoiden und Opiaten nahe3. In Tierexperimenten wurde gezeigt, dass Cannabinoid-Agonisten die Wirkung von Opioid-Agonisten verstärken und sich somit aufgrund der zu verringernden Dosierungen auch unerwünschte Nebenwirkungen abschwächen2. In einer Studie in den USA wurde eine synergistische Wirkung von Cannabis und Oxycodon an gesunden Probanden mittels Kaltwassertest gezeigt: Oxycodon in geringen Dosen konnte lediglich in Kombination mit THC/CBD-Kapseln eine schmerzlindernde Wirkung erzielen4.

Durch den Einsatz von medizinischem Cannabis kann die Opioid-Dosis bzw. die Anzahl der Opioid-Verordnungen um die Hälfte verringert werden.

Existierende präklinische Studien und Beobachtungsstudien sind sehr vielversprechend und zeigen Opiat-sparende Effekte durch den Einsatz von Cannabis3. Bereits 2017 zeigte eine Zusammenfassung verschiedener Untersuchungen , dass die effektive Dosis von Morphin, welches in Kombination mit Dronabinol verabreicht wurde, 3,6-mal niedriger war als die von Morphin allein. Bei Codein mit Dronabinol war die effektive Dosis sogar 9,5-mal niedriger5.

In einer israelischen Studie wurde gezeigt, dass der Opioid-Konsum von chronischen Schmerzpatienten nach Beginn einer Cannabistherapie um 44% gesenkt werden konnte. Zudem führte der Einsatz von medizinischem Cannabis im Untersuchungszeitraum zu einer signifikanten Schmerzsenkung sowie zur Verbesserung der sozialen und emotionalen Einschränkungen6. Eine Patienten-Befragungen nach dem Beginn einer begleitenden Cannabis-Therapie ergab eine deutliche Verbesserung hinsichtlich Lebensqualität, Teilnahme am sozialen Leben und Aktivität (unabhängig davon, ob die Opiat-Dosis reduziert werden konnte oder nicht). Die Forscher schlussfolgerten, dass Cannabis vor allem die Begleitumstände bzw. das Leben mit den Schmerzen als solches erträglicher macht7. Die Befragung von Patienten aus drei Cannabis-Praxen in den USA kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: 40,4% der Teilnehmer berichteten von einem kompletten Absetzen der Opiate und 45,2% zumindest von einer Dosisreduktion; von einer Verbesserung der Lebensqualität berichteten 87,0% und 62,8% wollen auch zukünftig keine Opiate mehr einnehmen8.

Forscher des New York State Department of Health in Albany, USA, untersuchten im Zeitraum von 2017 bis 2019 den Opioidkonsum von 8165 Schmerzpatienten in zwei Kohorten: Die Nicht-Expositions-Gruppe (4041 Patienten) erhielt Medizinalcannabis für 30 Tage oder weniger, wohingegen die Expositions-Gruppe (4124 Patienten), Medizinalcannabis für mehr als 30 Tage erhielt. Während der Nachbeobachtung wurde in der Expositionsgruppe eine signifikant stärkere Verringerung der Opioiddosis beobachtet. Die Menge an Opioiden wurde in Morphin-Milligramm-Äquivalenten (MME) angegeben. Im letzten Monat des Nachbeobachtungszeitraumes wurde in der Expositionsgruppe die tägliche MME um 47 bis 51% reduziert. Zum Vergleich: In der Nicht-Expositionsgruppe wurde die MME lediglich um 4 bis 14% reduziert. Die Autoren schlussfolgerten, dass eine längere Dauer der Behandlung mit Medizinalcannabis mit einer Verringerung der Opioiddosen in Verbindung gebracht werden kann, wodurch das Risiko einer opioidbedingten Morbidität und Mortalität gesenkt werden kann13.

Bernard Le Foll fasst in seinem Review einige präklinische und klinische Studien kritisch zusammen. Präklinische Studien liefern eindeutige Belege für einen opiat-sparenden Effekt durch den Einsatz von Cannabis, jedoch bemängelt er die unzureichende Evidenz klinischer Studien9. Zur Beurteilung des Effektes sind prospektive, hoch-qualitative klinische Studien nötig. Häufig wird das Design der existierenden Studien kritisiert: zu geringe Fallzahlen, nicht-randomisiert, Fehlen der Placebo-Kontrolle, auftretende Selektionsverzerrungen und ausschließliche retrospektive Betrachtungen5, 10.

Vorteile des Einsatzes von Medizinalcannabis

Die Gabe von Medizinalcannabis als Schmerzmittel kann zwar Nebenwirkungen wie trockener Mund, Schwindel, Müdigkeit und psychische Effekte haben, jedoch berichten viele Patienten, dass bei langsamen Therapiebeginn gegen diese Nebenwirkungen schnell eine Toleranz aufgebaut wird. Zumeist sind die von der Cannabis-Einnahme ausgelösten Nebenwirkungen jedoch vergleichsweise geringer als die Nebenwirkungen, die von Opioid-Analgetika verursacht werden. Das Risiko der psychiatrischen Nebenwirkungen ist bei gleichzeitigem Einsatz von Cannabis und Opiaten erhöht, zudem steigt das Risiko des Opiat-Missbrauchs11. Daher sollten Patienten mit Sucht-Erkrankungen in der Vergangenheit, zusätzlich zu ihrer Opiat-Therapie kein zusätzliches Medizinalcannabis erhalten.

Einer der wohl größten Vorteile von Medizinalcannabis gegenüber den Opioiden ist die geringe Toleranzentwicklung. Der Körper gewöhnt sich sehr schnell an die Opioid-Gabe, wodurch die meisten Patienten ihre Dosis stetig erhöhen müssen. Dieser Effekt besteht bei der Einnahme von Cannabis-Arzneimitteln nicht. Auch wenn cannabisbasierte Medikamente über einen längeren Zeitraum eingenommen werden, sind höhere Dosen meist nicht oder nur geringfügig notwendig, um eine gleichbleibende schmerzlindernde Wirkung zu erhalten.

Wie Cannabis auftitrieren und Opioide reduzieren?

Vor allem bei Patienten, die unter Opioiden ihr Therapieziel nicht erreichen oder es zu Opioid bedingten Komplikationen trotz geeigneter psychischer oder physischer Interventionen kommt, ist der Einsatz von Cannabis eine gute Therapiemöglichkeit. US-Schmerztherapeuten haben dazu konsensbasierte Empfehlungen zum Auftitrieren von Cannabinoiden und schrittweiser Reduktion von Opioiden entwickelt12:

  • Die Cannabis-Therapie sollte mit einem oralen (tagsüber eingenommenen) CBD-dominanten Extrakt initiiert werden. Zusätzliches THC kann in Betracht gezogen werden. 
  • Bei der Zugabe von THC sollte mit 0,5 – 3 mg begonnen werden. Die Dosis sollte bei Bedarf ein- oder zweimal wöchentlich um 1 – 2 mg/d auf bis zu 30 – 40 mg/d gesteigert werden.
  • Die Opioid-Reduktion kann begonnen werden, sobald der Patient über eine geringe/große Funktionsverbesserung berichtet, weniger Bedarfsmedikation zur Schmerzbekämpfung einnimmt und/oder die CBD-Dosis optimiert wurde.
  • Die Reduktion der Opioide kann alle ein bis vier Wochen 5% bis 10% der Morphin-Äquivalenzdosis betragen.

Fazit

Opioide sind gut wirksame Schmerzmittel mit jedoch starken Nebenwirkungen und Risiken, wodurch eine erhebliche Bedrohung für die öffentliche Gesundheit besteht. Besonders in Fällen mit starken chronischen Schmerzen ist deren Einsatz jedoch gerechtfertigt. In allen anderen Fällen kann die Gabe von Medizinalcannabis eine sinnvolle Ergänzung bzw. Alternative sein. Für die schmerzlindernde Wirkung von CBD und THC gibt es inzwischen einige anekdotische und klinische Belege. Weiterführende Untersuchungen sind jedoch nötig, um den Mechanismus der Schmerzlinderung durch Cannabis zu verstehen und somit dessen Einsatz zu begründen. Aber es besteht berechtigter Anlass zur Hoffnung, dass Cannabis auch im Zusammenhang mit Opiaten eine deutliche Symptomlinderung bzw. verbunden mit der Opiat-Dosisreduktion eine Verbesserung der Lebensqualität bewirken kann.

Quellenangabe

1 Gerd Glaeske. Opioidreport 2022, Universität Bremen, SOCIUM, März 2022.
2 Zádor F, Wollemann M. Receptome: Interactions between three pain-related receptors or the "Triumvirate" of cannabinoid, opioid and TRPV1 receptors. Pharmacol Res. 2015 Dec;102:254-63.
3 Nielsen S, Picco L, Murnion B, Winters B, Matheson J, Graham M, Campbell G, Parvaresh L, Khor KE, Betz-Stablein B, Farrell M, Lintzeris N, Le Foll B. Opioid-sparing effect of cannabinoids for analgesia: an updated systematic review and meta-analysis of preclinical and clinical studies. Neuropsychopharmacology. 2022 Jun;47(7):1315-1330.
4 Cooper ZD, Bedi G, Ramesh D, Balter R, Comer SD, Haney M. Impact of co-administration of oxycodone and smoked cannabis on analgesia and abuse liability. Neuropsychopharmacology. 2018 Sep;43(10):2046-2055.
5 Nielsen S, Sabioni P, Trigo JM, Ware MA, Betz-Stablein BD, Murnion B, Lintzeris N, Khor KE, Farrell M, Smith A, Le Foll B. Opioid-Sparing Effect of Cannabinoids: A Systematic Review and Meta-Analysis. Neuropsychopharmacology. 2017 Aug;42(9):1752-1765.
6 Haroutounian S, Ratz Y, Ginosar Y, Furmanov K, Saifi F, Meidan R, Davidson E. The Effect of Medicinal Cannabis on Pain and Quality-of-Life Outcomes in Chronic Pain: A Prospective Open-label Study. Clin J Pain. 2016 Dec;32(12):1036-1043.
7 Vigil JM, Stith SS, Adams IM, Reeve AP. Associations between medical cannabis and prescription opioid use in chronic pain patients: A preliminary cohort study. PLoS One. 2017 Nov 16;12(11):e0187795.
8 Takakuwa KM, Sulak D. A Survey on the Effect That Medical Cannabis Has on Prescription Opioid Medication Usage for the Treatment of Chronic Pain at Three Medical Cannabis Practice Sites. Cureus. 2020 Dec 2;12(12):e11848.
9 Le Foll B. Opioid-sparing effects of cannabinoids: Myth or reality? Prog Neuropsychopharmacol Biol Psychiatry. 2021 Mar 2;106:110065.
10 Campbell G, Hall W, Nielsen S. What does the ecological and epidemiological evidence indicate about the potential for cannabinoids to reduce opioid use and harms? A comprehensive review. Int Rev Psychiatry. 2018 Oct;30(5):91-106.
11 Rogers AH, Bakhshaie J, Buckner JD, Orr MF, Paulus DJ, Ditre JW, Zvolensky MJ. Opioid and Cannabis Co-Use among Adults With Chronic Pain: Relations to Substance Misuse, Mental Health, and Pain Experience. J Addict Med. 2019 Jul/Aug;13(4):287-294.
12 Sihota A, Smith BK, Ahmed SA, Bell A, Blain A, Clarke H, Cooper ZD, Cyr C, Daeninck P, Deshpande A, Ethans K, Flusk D, Le Foll B, Milloy MJ, Moulin DE, Naidoo V, Ong M, Perez J, Rod K, Sealey R, Sulak D, Walsh Z, O'Connell C. Consensus-based recommendations for titrating cannabinoids and tapering opioids for chronic pain control. Int J Clin Pract. 2020 Aug;75(8):e13871.
13 Nguyen T, Li Y, Greene D, Stancliff S, Quackenbush N. Changes in Prescribed Opioid Dosages Among Patients Receiving Medical Cannabis for Chronic Pain, New York State, 2017-2019. JAMA Netw Open. 2023 Jan 3;6(1):e2254573.

Autor: Dr. Nadine Herwig
Dr. Nadine Herwig - Leiterin Grünhorn Academy
Dr. Nadine Herwig studierte von 2006 bis 2010 Angewandte Naturwissenschaften an der Technischen Universität Bergakademie Freiberg. Ihre Promotion führte sie am Helmholtz-Zentrum in Dresden-Rossendorf am Institut für Radiopharmazie durch. Zu ihren bislang publizierten wissenschaftlichen Arbeiten gehören u. a. Originalartikel auf dem Gebiet der Hautkrebsforschung und der Biomarker.