Medizinisches Cannabis bei Suchterkrankungen im Kontext der Substitutionsmedizin | GH Academy

Substitutionsmedizin bezieht sich auf die medizinische Praxis, bei der ein fehlendes oder unzureichend vorhandenes biologisches Molekül, Hormon, Enzym oder eine andere Substanz durch eine externe Quelle ersetzt wird. In Bezug auf Suchterkrankungen bezieht sich Substitutionsmedizin auf die Verwendung von Medikamenten, um die Abhängigkeit von einer bestimmten Substanz zu behandeln. Dies wird oft bei Opioid-Abhängigkeit angewendet, wo Substitutionsmedikamente wie Methadon oder Buprenorphin verwendet werden, um die körperlichen Entzugserscheinungen zu mildern und das Verlangen nach Opioiden zu reduzieren. Das Ziel der Substitutionsmedizin bei Suchterkrankungen ist es, den Betroffenen eine Möglichkeit zu bieten, stabil zu bleiben, ihre Lebensqualität zu verbessern und die Risiken im Zusammenhang mit dem Gebrauch illegaler Drogen zu verringern. Oft wird Substitutionsmedizin auch als Teil eines umfassenderen Behandlungsansatzes eingesetzt, der psychosoziale Unterstützung, Beratung und andere Therapien umfasst, um die Genesung und die langfristige Abstinenz zu fördern.

Das Potenzial der Cannabispflanze in der Substitutionsmedizin ist noch wenig erforscht. Es gibt jedoch erste Hinweise darauf, dass Cannabidiol (CBD) die Nikotinabhängigkeit [1] und die Suchtmittel-bedingte Belohnungsreaktion im Gehirn [2] reduzieren kann.

Bisherige Untersuchungen haben gezeigt, dass die Häufigkeit der regelmäßigen Cannabiseinnahme unter Opioid-substituierten Patient:innen 50-mal höher ist als in der Allgemeinbevölkerung. Etwa die Hälfte dieser Patientengruppe verwendet regelmäßig Cannabis. Dennoch fehlen grundlegende Daten über das Cannabiseinnahme-Verhalten Opioid-abhängiger Patient:innen und der Zusammenhang zwischen Cannabis- und Opioid-Konsum ist Gegenstand der Forschung [3].

Rolle des Endocannabinoidsystems (ECS)

Verschiedene Studien legen nahe, dass Cannabis möglicherweise als Substitutionsmittel für Abhängige von Alkohol oder anderen Stoffen wie Opioiden fungieren kann. Dies liegt daran, dass Cannabinoide antidepressive Eigenschaften aufweisen [4] und den "Suchtdruck" verringern können. Darüber hinaus können die Wirkstoffe der Cannabispflanze stark abhängigen Menschen bei der Bewältigung von Entzugserscheinungen wie Zittern, Schlaflosigkeit, Nervosität und Übelkeit helfen [5]. Langjähriger exzessiver Alkoholmissbrauch kann zu geistiger Beeinträchtigung sowie Persönlichkeits- und Verhaltensveränderungen führen. Auch hier können Cannabinoide helfen, diese krankhaften Veränderungen zu minimieren. um Beispiel fungiert Cannabidiol (CBD) als Neuroprotektor und neuronaler Regenerator, der die entstandenen Schäden ausgleichen kann [4].

Klinische Studien zum Einsatz von Cannabis in der Substitutionsmedizin

LMU-Wissenschaftler führten eine Pilotstudie mit 128 Opioid-substituierten Patient:innen durch, um das Cannabis-Suchtverhalten zu analysieren [6]. Mittels standardisierter Fragebögen wurden cannabisspezifische Erfahrungen, wie Einnahmemenge, -häufigkeit, Motive, Entzugserscheinungen und Nebenwirkungen, erfasst. Zudem wurden Serumspiegel von THC, CBD, CBN und Nikotin gemessen, um den Einfluss der Cannabiseinnahme auf Substitutionsdosen zu evaluieren. Die Teilnehmenden waren im Durchschnitt 45 Jahre alt und begannen im Median im Alter von 14 Jahren mit täglicher Cannabiseinnahme. Die Hauptgründe für die anhaltende Einnahme waren innere Unruhe (79 %), Stressreduktion (61 %) und Verringerung des Suchtdrucks (53 %). Die Studie deutet darauf hin, dass Cannabis eine wirksame Alternative in der Therapie von Abhängigkeitserkrankungen sein könnte. Bezüglich des Einflusses auf den Opioid-Konsum beobachteten die Forscher unterschiedliche Ergebnisse, die auf verschiedene Faktoren wie Cannabinoid-Konzentrationen, Metabolisierung und Komorbiditäten zurückzuführen sein könnten. Professor Markus Backmund, Leiter der Studie, betonte, dass im Vergleich zu anderen Suchtmitteln wie Alkohol oder Kokain die Cannabispflanze relativ unschädlich sei. Laut Forschenden der University of Pittsburgh Schools of Health Sciences sterben in den USA täglich etwa 170 Menschen an einer Überdosierung von verschreibungspflichtigen Schmerzmitteln. Cannabis vermittelt neben schmerzlindernden Eigenschaften noch weitere Effekte, so dass es eine höhere therapeutische Breite als Opioide besitzt. Zudem verursacht Cannabis aufgrund seiner Wirkweise keine Atemdepression [7], wie sie im Zusammenhang mit einer potenziell tödlichen Opiat-Überdosierung stehen kann.

Forschende der University of British Columbia haben kürzlich neue Erkenntnisse veröffentlicht, die darauf hinweisen, dass Cannabis eine Rolle bei der Bewältigung der Drogen-Überdosis-Krise spielen könnte [8]. Die Studie von Dr. Hudson Reddon, Dr. Zach Walsh und Dr. M-J Milloy zeigt, dass die Einnahme von Cannabis mit einem geringeren Konsum von Crystal-Meth (Methamphetamin) verbunden ist. Etwa 45 % der Studienteilnehmenden gaben an, Cannabis zur Kontrolle ihres Verlangens nach Stimulanzien verwendet zu haben, wobei ein deutlicher Rückgang des Crystal-Meth-Konsums beobachtet wurde. Die Ergebnisse sind zwar nicht eindeutig, jedoch tragen sie zu den wachsenden wissenschaftlichen Beweisen bei, die darauf hindeuten, dass Cannabis möglicherweise für Personen, die ihren unkontrollierten Konsum von Stimulanzien besser kontrollieren möchten, nützlich sein könnte. Die Autoren betonen das Potenzial von Cannabis als Schadensminimierungsstrategie, aber auch die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen, um das volle Potenzial von Cannabis in Bezug auf die Überdosis-Krise zu verstehen.

In einem Übersichtsartikel aus dem Jahr 2018 kamen die Forscherinnen zu einem ganz ähnlichen Ergebnis: Aufgrund der bereits vorliegenden Daten und des relativen Sicherheitsprofils, könnte sich Cannabis als ergänzende oder alternative Behandlung zur Opioid-Konsum-Störung eignen [9]. Demnach zeigt Cannabis das Potenzial, Opioid-Entzugssymptome und das Verlangen nach Opioiden zu lindern, somit den Opioid-Konsum zu reduzieren und einen Opioid-Rückfall zu verhindern. Damit verbunden kann der Verbleib in der Behandlung zur Opioid-Konsum-Störung verbessert und die Zahl der Todesfälle durch Überdosierung verringert werden. Die Forscherinnen gehen sogar noch ein Stück weiter und schlussfolgern, dass das größte Potenzial von Cannabis zur positiven Beeinflussung der Opioid-Epidemie darin bestehen könnte, als Analgetikum der ersten Wahl anstelle von oder zusätzlich zu Opioiden treten zu können. Dazu bedarf es weiterer Erforschungen, um die vergleichbare Wirksamkeit von Cannabis allein oder in Verbindung mit den derzeitigen medikamentengestützten Therapien zu Opioid-Konsum-Störungen weiter zu untersuchen.

Eine kanadische Studie untersuchte das Zusammenspiel von Cannabis und Alkohol und ergab, dass die Einnahme von Cannabis die negativen Folgen von Alkohol mindern kann, was zu einer Abnahme der Häufigkeit von Lebererkrankungen bei Alkoholikern führen kann [10]. Über 300.000 Patient:innen mit langjährigem Alkoholmissbrauch wurden untersucht, wobei etwa 10 % auch Cannabis einnahmen. Die Forschenden stellten fest, dass diese Patient:innen deutlich weniger Anzeichen für Lebererkrankungen zeigten. Sie schlussfolgerten, dass die Cannabiseinnahme von Alkoholikern die Wahrscheinlichkeit einer Lebererkrankung verringern kann, und wiesen auf die entzündungshemmende Wirkung von Cannabis hin. Übermäßiger Alkoholkonsum führt zu einer Leberübersättigung und Schwellung, was zu Erkrankungen und Zerfall der Leber führen kann. Diese krankhaften Veränderungen können durch den Einsatz von Cannabis gemindert werden.

Fazit

Die Substitution einer psychoaktiven Substanz durch eine andere, um gesundheitliche und soziale Schäden zu begrenzen, ist eine der vier Säulen der deutschen Drogenpolitik und wird als "Überlebenshilfe und Schadensminderung" bezeichnet. Cannabispatient:innen verfolgen genau diesen Ansatz, wenn sie Cannabis als Alternative zu Alkohol, Medikamenten und illegalen Drogen verwenden, deren Missbrauch zum Tode führen kann.

Angesichts zunehmender wissenschaftlicher Beweise setzen immer mehr Ärzt:innen und Expert:innen auf Cannabis als Mittel zur Suchtbehandlung. Dies liegt zum einen daran, dass das Suchtpotenzial von medizinischem Cannabis im Vergleich zu anderen Medikamenten und Drogen deutlich geringer ist. Zum anderen beeinträchtigt Cannabis die Patient:innen weniger stark als beispielsweise verschriebene Opioide, was es ihnen ermöglicht, ihrem Alltag besser nachzugehen. Zudem sind die Nebenwirkungen von Cannabis im Vergleich zu anderen Arzneimitteln, selbst bei einer Langzeitanwendung, geringer und weniger unangenehm.

Auf jeden Fall sind weitere Forschungen zu diesem Thema erforderlich, um genauere Aussagen treffen zu können. Die bisherigen Ergebnisse und Ansätze sind jedoch recht vielversprechend.

Quellen:


[1] Morgan, C. J., Das, R. K., Joye, A., Curran, H. V., & Kamboj, S. K. (2013). Cannabidiol reduces cigarette consumption in tobacco smokers: preliminary findings. Addictive behaviors, 38(9), 2433–2436. 
[2] Karimi-Haghighi, S., Razavi, Y., Iezzi, D., Scheyer, A. F., Manzoni, O., & Haghparast, A. (2022). Cannabidiol and substance use disorder: Dream or reality. Neuropharmacology, 207, 108948.
[3] https://www.apotheke-adhoc.de/nachrichten/detail/pharmazie/cannabis-als-substitutionsmittel-suchtmedizin/ abgerufen am 07.03.2024 
[4] Müller-Vahl, K. und Grotenhermen, F.: Cannabis und Cannabinoide in der Medizin. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, 2020. 
[5] Prud'homme M, Cata R, Jutras-Aswad D. Cannabidiol as an Intervention for Addictive Behaviors: A Systematic Review of the Evidence. Subst Abuse. 2015 May 21;9:33-8. 
[6] https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2018/07/20/suchtmedizin-mit-cannabis-gegen-opiat-verlangen abgerufen am 07.03.3024 
[7] https://www.aerzteblatt.de/archiv/203132/Therapie-mit-Cannabinoiden-Viel-Erfahrung-wenig-Evidenz abgerufen am 07.03.2024 
[8] Reddon, H., Socias, M. E., DeBeck, K., Hayashi, K., Walsh, Z., & Milloy, M. J. (2024). Cannabis use to manage stimulant cravings among people who use unregulated drugs. Addictive behaviors, 148, 107867. 
[9] Wiese B, Wilson-Poe AR. Emerging Evidence for Cannabis' Role in Opioid Use Disorder. Cannabis Cannabinoid Res. 2018 Sep 1;3(1):179-189. 
[10] Adejumo, A. C., Ajayi, T. O., Adegbala, O. M., Adejumo, K. L., Alliu, S., Akinjero, A. M., Onyeakusi, N. E., Ojelabi, O., & Bukong, T. N. (2018). Cannabis use is associated with reduced prevalence of progressive stages of alcoholic liver disease. Liver international : official journal of the International Association for the Study of the Liver, 38(8), 1475–1486.
Autor: Dr. Nadine Herwig
Dr. Nadine Herwig - Leiterin Grünhorn Academy
Dr. Nadine Herwig studierte von 2006 bis 2010 Angewandte Naturwissenschaften an der Technischen Universität Bergakademie Freiberg. Ihre Promotion führte sie am Helmholtz-Zentrum in Dresden-Rossendorf am Institut für Radiopharmazie durch. Zu ihren bislang publizierten wissenschaftlichen Arbeiten gehören u. a. Originalartikel auf dem Gebiet der Hautkrebsforschung und der Biomarker.