Medizinisches Cannabis gegen Übelkeit und Erbrechen – Fakten & Anwendung

Veröffentlicht am: 26.09.2025
Key Facts
- Medizinisches Cannabis aktiviert das Endocannabinoid-System: THC wirkt über CB1-Rezeptoren, CBD über 5-HT1A-Rezeptoren und können dadurch Übelkeit und Erbrechen hemmen.
- Studienlage: THC-haltige Präparate sind zum Teil wirksamer als Standard-Antiemetika, aber mit Nebenwirkungen; Die Kombination von THC+CBD zeigt teilweise einen zusätzlichen Nutzen.
- Canemes® (Nabilon): Ist das einzige zugelassene Fertigarzneimittel in Deutschland für Chemotherapie-bedingte Übelkeit bei Therapieversagen der Standard-Medikamente.
- Rezepturarzneimittel (z. B. Extrakte, Blüten): Bieten mehr Flexibilität, eine Kombination aus THC & CBD sowie weiteren Inhaltsstoffen, sind besser individuell dosierbar und oft verträglicher.
- Zusatznutzen: Neben der Übelkeitslinderung sind auch eine Appetitsteigerung, Schmerzlinderung und besserer Schlaf möglich.
Medizinisches Cannabis wird zunehmend bei schwer behandelbaren Symptomen wie Übelkeit und Erbrechen diskutiert. Besonders bei Patient:innen unter Chemotherapie oder mit chronischen Erkrankungen zeigt sich, dass klassische Medikamente (Antiemetika) nicht immer ausreichend wirken. In diesem Beitrag erklären wir die biochemischen Grundlagen, fassen die aktuelle Studienlage zusammen und geben einen Überblick über Cannabis-basierte Arzneimittel von Canemes® bis Rezepturarzneimittel.
Biochemische Grundlagen – wie wirkt Cannabis gegen Übelkeit?
Die Wirkung von Cannabis beruht auf der Aktivierung des Endocannabinoid-Systems (ECS):
- THC (Δ9-Tetrahydrocannabinol) bindet an CB1-Rezeptoren im Gehirn1, insbesondere in Regionen, die Übelkeit und Brechreiz steuern. Dadurch werden Signalwege gehemmt, die das Erbrechen auslösen.
- CBD (Cannabidiol) wirkt indirekt über Serotonin-Rezeptoren (5-HT1A) und moduliert so die antiemetischen Effekte2.
Diese Mechanismen erklären, warum Cannabis-basierte Medikamente bei therapieresistenter Übelkeit eine klinische Rolle spielen können.
Studienlage zu medizinischem Cannabis bei Übelkeit und Erbrechen
Die wissenschaftliche Evidenz, sprich die Frage nach der Wirksamkeit, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Jedoch entsteht ein zunehmend klareres Bild:
- Eine Auswertung von 23 Studien zeigte, dass THC-haltige Präparate bei Chemotherapie-induzierter Übelkeit teilweise wirksamer als klassische Antiemetika waren, allerdings mit häufigeren Nebenwirkungen wie Schwindel oder Sedierung3.
- In weiteren Studien wurden ebenfalls Hinweise gefunden, dass Cannabinoide Übelkeit signifikant im Vergleich zu Placebo reduzierten4.
- Eine Untersuchung mit 81 Patient:innen zeigte, dass THC:CBD-Kombinationen zusätzlich zu Standardantiemetika zu einer Verbesserung führten, aber mit mehr Nebenwirkungen5.
- Aktuelle klinische Studien befassen sich mit der Wirkung von CBD in Kombination mit Standardtherapien, da es angstlindernd und antiemetisch wirken könnte, ohne die psychotropen Effekte von THC.
Fazit der Forschung: Cannabis kann bei therapieresistenter Übelkeit eine wirksame Ergänzung sein, sollte aber individuell und kritisch eingesetzt werden.
Canemes® – Zulassung und Bedeutung
Canemes® (Wirkstoff: Nabilon) ist ein synthetisches Cannabinoid und in Deutschland zugelassen zur Behandlung von Übelkeit und Erbrechen infolge einer Chemotherapie, wenn Standardtherapien nicht ausreichend wirksam sind.
- Nabilon ist strukturell dem THC gleich und wirkt als CB1- und CB2-Rezeptor-Agonist.
- Im Unterschied zu Cannabisblüten oder -extrakten handelt es sich um ein zugelassenes Fertigarzneimittel mit definierter Dosierung und Qualität.
- Eingesetzt wird es vor allem in der Krebstherapie, wenn klassische Antiemetika (wie 5-HT3- oder NK1-Antagonisten) nicht den gewünschten Effekt zeigen.
Damit ist Canemes® eines der wenigen Cannabinoid-Arzneimittel, das offiziell für Übelkeit und Erbrechen indiziert ist – im Gegensatz zu den auf Rezepturbasis verordneten Cannabisblüten oder -extrakten, die meist off-label angewendet werden.
Warum Cannabis-Rezepturarzneimittel eine Alternative zu Canemes® sein können
Canemes® ist als zugelassenes Fertigarzneimittel einem Cannabis-Rezepturarzneimittel (z. B. standardisierte Extrakte oder Cannabisblüten) vorzuziehen – so ist es auch in der Arzneimittel-Richtlinie geregelt. Dennoch entscheiden sich Ärzt:innen und Patient:innen in bestimmten Fällen bewusst für Cannabis-Rezepturarzneimittel. Gründe dafür sind:
1. Wirkstoffvielfalt (THC + CBD statt nur Nabilon)
- Canemes® enthält nur Nabilon (ein künstlich hergestelltes THC).
- Cannabis-Rezepturarzneimittel enthalten pflanzliche Cannabinoide wie THC und CBD sowie Terpene, die im Zusammenspiel (sog. „Entourage-Effekt“) zusätzliche Vorteile haben könnten, z. B. angstlösend oder schlaffördernd.
- CBD kann die psychoaktiven Nebenwirkungen von THC abmildern.
2. Individuelle Dosierung & Flexibilität
- Bei Canemes® sind die Dosierungen festgelegt, da es sich um fertige Kapseln handelt.
- Rezepturarzneimittel ermöglichen maßgeschneiderte Dosierungen, z. B. Tropfen mit niedrigem THC-Gehalt oder CBD-reiche Extrakte.
- Anpassungen können je nach Verträglichkeit und Bedarf leichter erfolgen.
3. Verträglichkeit und Nebenwirkungen
- Nabilon ist oft wirksam, aber auch mit Nebenwirkungen wie Müdigkeit, Schwindel oder psychotropen Effekten verbunden.
- Manche Patient:innen berichten, dass sie pflanzliche Extrakte oder THC/CBD-Kombinationen besser vertragen.
4. Weitere Symptomlinderung
- Neben Übelkeit und Erbrechen berichten Patient:innen mit Cannabis-Rezepturarzneimitteln häufig auch von Appetitsteigerung, Schmerzlinderung oder besserem Schlaf.
- Das kann bei Krebs-Patient:innen ein relevanter Zusatznutzen sein.
Canemes® ist klar geregelt, standardisiert und für Chemotherapie-induzierte Übelkeit zugelassen – ideal für die Leitlinien-gerechte Behandlung.
Cannabis-Rezepturarzneimittel bieten dagegen mehr Flexibilität, zusätzliche Symptomkontrolle und eine Kombination aus Wirkstoffen, weshalb sie für manche Patient:innen die bevorzugte Wahl sein können.
Allgemeine Hinweise für Patient:innen
Cannabis sollte nur bei fehlendem Erfolg konventioneller Medikamente in Betracht gezogen werden. Cannabis-basierte Medikamente können einen zusätzlichen positiven Effekt ausüben, Appetit und damit auch die Lebensqualität verbessern.
Aufgrund der komplexen Wirkung ist eine ärztliche Begleitung zwingend erforderlich. Vor allem auch in Betracht auf mögliche Nebenwirkungen und Gegenanzeigen. Patient:innen mit psychischen Vorerkrankungen oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen müssen besonders sorgfältig überwacht werden.
Fazit
Medizinisches Cannabis stellt eine ernstzunehmende Therapieoption bei schwer behandelbarer Übelkeit und Erbrechen dar, insbesondere bei Chemotherapie-Patient:innen. Die biochemische Grundlage ist durch das Endocannabinoid-System gut nachvollziehbar, erste Studien belegen Wirksamkeit, auch wenn die Evidenz noch moderat ist. Während Canemes® als THC-Analogon bereits zugelassen ist, erfolgt die Versorgung im antiemetischen Bereich vor allem über Cannabis-basierte Rezepturarzneimittel.
Entscheidend bleibt die individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung unter ärztlicher Aufsicht, um Patient:innen eine sichere und wirksame Therapieoption zu bieten.
Quelle
[1] Van Sickle MD, Oland LD, Ho W, Hillard CJ, Mackie K, Davison JS, Sharkey KA. Cannabinoids inhibit emesis through CB1 receptors in the brainstem of the ferret. Gastroenterology. 2001 Oct;121(4):767-74.
[2] Rock EM, Bolognini D, Limebeer CL, Cascio MG, Anavi-Goffer S, Fletcher PJ, Mechoulam R, Pertwee RG, Parker LA. Cannabidiol, a non-psychotropic component of cannabis, attenuates vomiting and nausea-like behaviour via indirect agonism of 5-HT(1A) somatodendritic autoreceptors in the dorsal raphe nucleus. Br J Pharmacol. 2012 Apr;165(8):2620-34.
[3] Smith LA, Azariah F, Lavender VT, Stoner NS, Bettiol S. Cannabinoids for nausea and vomiting in adults with cancer receiving chemotherapy. Cochrane Database Syst Rev. 2015 Nov 12;2015(11):CD009464.
[4] Whiting PF, Wolff RF, Deshpande S, Di Nisio M, Duffy S, Hernandez AV, Keurentjes JC, Lang S, Misso K, Ryder S, Schmidlkofer S, Westwood M, Kleijnen J. Cannabinoids for Medical Use: A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA. 2015 Jun 23-30;313(24):2456-73.
[5] Grimison P, Mersiades A, Kirby A, Lintzeris N, Morton R, Haber P, Olver I, Walsh A, McGregor I, Cheung Y, Tognela A, Hahn C, Briscoe K, Aghmesheh M, Fox P, Abdi E, Clarke S, Della-Fiorentina S, Shannon J, Gedye C, Begbie S, Simes J, Stockler M. Oral THC:CBD cannabis extract for refractory chemotherapy-induced nausea and vomiting: a randomised, placebo-controlled, phase II crossover trial. Ann Oncol. 2020 Nov;31(11):1553-1560.
