Einsatz von medizinischem Cannabis bei Angststörungen | GH Academy
Key Facts Cannabis und Angststörungen
- Angststörungen sind eine der häufigsten psychischen Erkrankungen weltweit und können das tägliche Leben erheblich beeinträchtigen.
- Konventionelle Therapien wie Verhaltenstherapie und Medikamente sind weit verbreitet, aber oft mit Nebenwirkungen verbunden. Vor allem CBD, ein nicht-psychoaktives Cannabinoid in Cannabis, zeigt in Studien vielversprechende angstlindernde Eigenschaften.
- Das Endocannabinoidsystem spielt eine Schlüsselrolle bei der Regulierung von Stimmung und Angst und könnte durch Cannabinoide wie CBD positiv beeinflusst werden.
- Studien belegen, dass CBD bei akuter Verabreichung die Symptome von Angststörungen wie PTBS, sozialer Phobie und generalisierter Angststörung lindern kann.
- Die richtige Dosierung und Standardisierung von Cannabispräparaten stellt eine Herausforderung dar und erfordert ärztliche Überwachung. THC kann Angstzustände verstärken, weshalb eine ausgewogene CBD-THC-Kombination bevorzugt wird.
Angststörungen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen weltweit. Sie können das tägliche Leben erheblich beeinträchtigen und sind oft schwer zu behandeln. Neben der generalisierten und sozialen Angststörung gehören auch Panikstörungen, Zwangsstörungen und posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) zur Gruppe der Angststörungen1. Traditionelle Therapien wie Psychotherapie (Verhaltenstherapie) und Medikamente (Antidepressiva und Anxiolytika wie Benzodiazepine) sind weit verbreitet, jedoch häufig mit unerwünschten Nebenwirkungen oder unzureichender Wirkung verbunden. Daher wächst das Interesse an alternativen Behandlungsansätzen. Einer dieser Ansätze ist der Einsatz von medizinischem Cannabis, das in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus der Forschung gerückt ist.
Angststörungen sind komplexe psychische Erkrankungen, die durch eine Vielzahl von Ursachen und Auslösern beeinflusst werden können. Die Entwicklung einer Angststörung ist oft das Ergebnis eines Zusammenspiels von genetischen, biologischen, psychologischen und umweltbedingten Faktoren1. Insbesondere in der heutigen Zeit kommen Auslöser wie (chronischer) Stress, Erwartungsdruck, traumatische Erlebnisse, (finanzielle) Zukunftssorgen und gesundheitliche Probleme verstärkt zum Tragen.
Medizinisches Cannabis und seine Wirkstoffe
Cannabis enthält zahlreiche bioaktive Verbindungen, die als Cannabinoide bezeichnet werden. Die beiden bekanntesten Cannabinoide sind Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD):
- THC ist die psychoaktive Komponente von Cannabis, die das charakteristische "High" verursacht. Es kann in niedrigen Dosen eine beruhigende Wirkung haben, aber in höheren Dosen Angstzustände verstärken und Paranoia auslösen.
- CBD hingegen ist nicht psychoaktiv und hat in Studien gezeigt, dass es potenziell angstlindernde Eigenschaften besitzt. CBD interagiert mit dem Endocannabinoidsystem des Körpers, das unter anderem an der Regulierung von Emotionen, Stimmung und Stress beteiligt ist.
Rolle des Endocannabinoidsystems (ECS)
Das ECS ist an einer Vielzahl an physiologischen Prozessen im Körper beteiligt, darunter befindet sich auch die Regulation von Stimmung und Angst.
Forschende verglichen zahlreiche präklinische Studien und fanden heraus, dass die Verwendung von CBD die Behandlung von generalisierter Angststörung, Panikstörung, sozialer Angststörung, Zwangsstörung und PTBS bei akuter Verabreichung unterstützen kann2. Allerdings haben nur wenige Studien die langfristige Verabreichung von CBD untersucht. Auch die Erkenntnisse aus Humanstudien sprechen für eine angstlösende Wirkung von CBD, beschränken sich aber auf die akute Verabreichung, und auch hier gibt es nur wenige Studien mit klinischen Populationen.
Das ECS ist über verschiedene Mechanismen an der Angstregulation beteiligt:
- Wenn Cannabinoid-1-Rezeptoren (CB-1-R) im Gehirn aktiviert werden, können sie die Freisetzung von chemischen Botenstoffen, die die Nervenzellen anregen, beeinflussen. Dadurch kann die Aktivierung von Nervenzellen, die oft mit Angst verbunden ist, verringert werden. Das bedeutet, dass das Gehirn weniger "überreizt" ist, was bei der Reduzierung von Angstgefühlen helfen kann.
- Es wird angenommen, dass CBD auch direkt auf den 5-HT1A-Rezeptor im Gehirn wirkt, der eine wichtige Rolle im zentralen Nervensystem spielt3. Wenn bestimmte Substanzen an diesen Rezeptor binden, kann dies eine angstlösende Wirkung haben. Ein Beispiel dafür sind Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, die häufig Angstpatient:innen verordnet werden und ebenfalls an den 5-HT1A-Rezeptor binden.
- Die Amygdala ist ein Teil des Gehirns, der eine wichtige Rolle bei der Entstehung und Verarbeitung von Angst spielt. Das ECS kann die Aktivität der Amygdala beeinflussen, was bedeutet, dass es dabei helfen kann, wie stark wir auf angstauslösende Situationen reagieren.
- Endocannabinoide helfen dem Körper, mit Stress umzugehen. Sie beeinflussen dabei eine bestimmte Kette von Reaktionen im Körper, die als Stressreaktion bekannt ist. Indem sie diese Reaktionen regulieren, können Endocannabinoide helfen, stressbedingte Angstgefühle zu kontrollieren.
Eine Dysregulation des ECS, wie eine verminderte Endocannabinoidproduktion oder eine gestörte Rezeptorfunktion, könnte zur Entstehung von Angststörungen beitragen. Forschungen haben gezeigt, dass Menschen mit Angststörungen oft veränderte Endocannabinoidspiegel haben4-6. Daher besteht die Vermutung, dass die Gabe von Cannabinoiden zu einer Wiederherstellung des Gleichgewichts führt und so physiologische Prozesse normalisiert.
Der klinische Einsatz von Cannabis bei Angststörungen
In der klinischen Praxis wird Cannabis zunehmend als ergänzende Therapie bei Angststörungen in Betracht gezogen, insbesondere bei Patienten, die auf herkömmliche Behandlungen nicht ausreichend ansprechen. Dabei wird vor allem CBD als vielversprechend angesehen, da es im Allgemeinen gut verträglich ist und ein geringes Risiko für Nebenwirkungen birgt7.
Studien haben gezeigt, dass CBD die Symptome von generalisierten Angststörungen (GAD) reduzieren kann, indem es das zentrale Nervensystem beruhigt und die Stressreaktionen des Körpers moduliert2. CBD wird auch bei der Behandlung von PTBS untersucht. Es gibt Hinweise darauf, dass CBD helfen kann, belastende Erinnerungen zu reduzieren und den Schlaf zu verbessern, was insbesondere entscheidend für Patient:innen mit PTBS ist8. Eine weitere Fallstudie ergab, dass die zusätzliche Gabe von 25mg bis 75 mg CBD pro Tag bei Patient:innen mit Angststörungen zu einer Besserung der Symptome führte9. Im ersten Monat der CBD-Therapie wurden die Angst-Scores bei 79% und die Schlafqualität bei 67% der Teilnehmenden verbessert. In einer anderen Studie erhielten Menschen mit sozialer Phobie eine Einzeldosis von 600 mg CBD oder ein Placebo, wobei sich unter CBD eine geringere Angst vor öffentlichem Sprechen zeigte10.
In einer weiteren Untersuchung konnte die einmalige Gabe von 400 mg CBD die Ängste bei Menschen mit sozialer Phobie lindern11. Forschende der Universität Sao Paulo in Brasilien teilten die Studienteilnehmer:innen in zwei Gruppen auf. Die erste Gruppe erhielt 400 mg CBD, die Teilnehmenden in der zweiten Gruppe bekamen ein Placebo. Am nächsten Tag wurde das Präparat entsprechend getauscht. Die Teilnehmer:innen aus der jeweiligen CBD-Gruppe berichteten von einem angstlindernden Effekt.
In einer Übersichtsarbeit wurde untersucht, ob Cannabinoide, insbesondere THC (mit oder ohne CBD), wirksam bei der Reduzierung von Angststörungen sind12. Die Ergebnisse zeigen, dass es sehr geringe Evidenz dafür gibt, dass THC (mit oder ohne CBD) eine leichte Verbesserung der Angstsymptome bei Personen mit anderen medizinischen Bedingungen (vor allem chronischen, nicht krebsbedingten Schmerzen und Multipler Sklerose) bewirkt.
Aktuell wurde eine Studie veröffentlicht, die sich mit der Wirkung von Cannabigerol (CBG) beschäftigt13. CBG ist ein weiteres Phytocannabinoid neben THC und CBD, das zunehmend interessant wird, da erste Forschungen darauf hindeuten, dass es angstlösende und antidepressive Wirkungen haben kann. Im Rahmen einer doppelblinden, Placebo-kontrollierten Cross-over-Feldstudie wurden 34 gesunde erwachsene Teilnehmer:innen 20 mg CBG oder einer Placebo-Tinktur verabreicht. Im Vergleich zu Placebo zeigte sich ein signifikanter Haupteffekt von CBG auf die allgemeine Verringerung der Ängstlichkeit sowie auf die Verringerung des Stresses. CBG verbesserte auch das verbale Gedächtnis im Vergleich zu Placebo. Es gab keine Hinweise auf subjektive Arzneimittelwirkungen oder Beeinträchtigungen. CBG könnte somit eine neue Option zur Verringerung von Stress und Angst bei gesunden Erwachsenen darstellen.
Neben THC und CBD rücken auch die Terpene zunehmend in den Fokus als möglicherweise ebenso therapeutisch wirksame Bestandteile des medizinischen Cannabis. In diesem Zusammenhang wurde kürzlich eine randomisierte, kontrollierte Studie veröffentlicht14. Zwanzig gesunde Erwachsene verdampften entweder THC allein (15 mg oder 30 mg), Limonen allein (1 mg oder 5 mg), die gleichen Dosen von THC und Limonen zusammen oder Placebo; eine Untergruppe der Teilnehmenden (n=12) inhalierte zusätzlich 30 mg THC + 15 mg Limonen. Bei alleiniger Verabreichung von Limonen unterschieden sich die Ergebnisse nicht von Placebo. Die Bewertungen der angstähnlichen subjektiven Wirkungen nahmen mit steigender Limonen-Dosis ab, und die gleichzeitige Verabreichung von 30 mg THC + 15 mg Limonen reduzierte die Bewertungen „ängstlich/nervös“ und „paranoid“ im Vergleich zu 30 mg THC allein signifikant. Limonen dämpfte somit die durch THC hervorgerufenen Angst auslösenden Wirkungen, was darauf hindeutet, dass dieses Terpen den therapeutischen Index von THC erhöhen könnte.
Risiken und Herausforderungen
Der klinische Einsatz von Cannabis bei psychischen Erkrankungen ist nicht ohne Risiken. Besonders der psychoaktive Wirkstoff THC kann bei manchen Personen Angstzustände verstärken und das Risiko von Panikattacken erhöhen. Insbesondere bei Patienten, die unter einer Psychose leiden, kann es nach der THC-Einnahme zu einer Verschlechterung des Zustandes kommen. Daher wird in der klinischen Praxis oft ein ausgewogenes Verhältnis von THC zu CBD oder ein reines CBD-Präparat bevorzugt, um Nebenwirkungen zu minimieren. Wie oben bereits erwähnt, konnte in Studien gezeigt werden, dass CBD die THC-induzierten Angstzustände minimieren kann15, 16.
Ein weiteres Problem ist die Standardisierung und Dosierung von Cannabispräparaten. Die Dosierung von Cannabisprodukten ist nicht immer einfach, da die Wirkstoffkonzentrationen variieren und individuelle Reaktionen auf die Behandlung stark unterschiedlich ausfallen können. Dies macht eine sorgfältige Überwachung und Anpassung der Therapie durch einen erfahrenen Arzt bzw. eine erfahrene Ärztin erforderlich.
Fazit
Der klinische Einsatz von Cannabis bei Angststörungen bietet vielversprechende Möglichkeiten, insbesondere in Fällen, in denen herkömmliche Therapien unzureichend sind. Medizinisches Cannabis kann dazu beitragen, Angstsymptome zu verringern, die Stimmung und den Schlaf zu verbessern und körperliche Symptome wie Zittern und Muskelspannung zu reduzieren. Besonders CBD hat sich als vielversprechendes Mittel zur Linderung erwiesen, während THC mit Vorsicht eingesetzt werden sollte. Dennoch bedarf es weiterer Forschung und sorgfältiger klinischer Anwendung, um die vollen Möglichkeiten und Grenzen dieser Therapieform auszuschöpfen. Patient:innen sollten den Einsatz von Cannabis immer in Absprache mit einem erfahrenen Arzt oder Psychiater bzw. einer erfahrenen Ärztin oder Psychiaterin in Erwägung ziehen, um sicherzustellen, dass die Therapie sicher und effektiv ist.
Quellen
[1] https://www.aerzteblatt.de/archiv/161279/Diagnostik-und-Therapieempfehlungen-bei-Angststoerungen
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