Zwischen Mythos und Wirklichkeit: Was stimmt wirklich beim Thema Cannabis?

Key Facts:
- Cannabis ist weder harmlos noch teuflisch. Es wirkt individuell unterschiedlich und birgt Risiken wie psychische Abhängigkeit oder kognitive Beeinträchtigungen, bietet aber gleichzeitig medizinisches Potenzial z. B. bei chronischen Schmerzen oder Übelkeit.
- Das Risiko einer Abhängigkeit ist bei Cannabis (ca. 9 %) deutlich geringer als bei Alkohol (ca. 15 %) oder Nikotin (ca. 30 %). Dennoch sollte der Konsum, vor allem in der Jugend, kritisch begleitet und möglichst medizinisch betreut werden.
- Wissenschaftlich ist belegt: Cannabis ist keine Einstiegsdroge und eine Legalisierung führt nicht zwangsläufig zu mehr Konsum – zentrale Faktoren sind Aufklärung, Jugendschutz und eine verantwortungsvolle Regulierung.
Ob in Gesprächen, in den sozialen Medien oder in der Popkultur: Kaum ein Thema wird so hitzig diskutiert wie Cannabis. Für die einen ist es ein wahres Wunderprodukt der Natur, dass in der Medizin als Alternative für herkömmliche Arzneimittel genutzt wird, für andere stellt es den ersten Weg in eine Sucht und des Verlusts der Kontrolle über das eigene Leben dar. Zwischen diesen zwei Extremen kursieren schon seit vielen Jahren zahlreiche Halbwahrheiten, Mythen und vorgefertigte Meinungen. Aussagen wie „Das ist doch alles ganz harmlos!“ oder „Wer sowas nutzt, macht sich das Leben kaputt!“ begegnen uns regelmäßig – doch wie viel davon stimmt wirklich?
In diesem Beitrag räumen wir gemeinsam mit den wissenschaftlichen Einschätzungen der Sozialwissenschaftlerin und Drogenexpertin Prof. Dr. Gundula Barsch mit gängigen Cannabis-Mythen auf – sachlich, differenziert und ohne Verharmlosung oder Panikmache.

Wer lieber hören statt lesen möchte:
Die zugehörige Podcastfolge ist auf YouTube, Spotify oder Apple Podcasts verfügbar.
Mythos 1: Natürlich = harmlos
Eine weit verbreitete Annahme, die anfangs logisch klingen mag – es aber nicht ist. Nur weil Cannabis eine natürliche Pflanze ist, heißt das nicht, dass sie und ihre Inhaltsstoffe risikolos ist. Auch viele andere natürliche Stoffe, wie beispielsweise bestimmte Pilze oder Kräuter, können eine starke oder sogar toxische Wirkung entfalten. Prof. Dr. Barsch betont: „Natürlich“ bedeutet nicht automatisch „ungefährlich“.
Cannabis wirkt psychoaktiv und kann, je nach Konsumform, Häufigkeit und individueller Veranlagung, unterschiedlich starke Nebenwirkungen haben. Dazu zählen unter anderem psychische Beeinträchtigungen, Konzentrationsstörungen und – vor allem bei Jugendlichen – eine gestörte Gehirnentwicklung. Gleichzeitig berichten aber auch viele erwachsene Konsument:innen von positiven Effekten wie Entspannung, besserem Schlaf oder Schmerzlinderung – gerade dann, wenn andere Arzneimittel nicht helfen. Bei einem kontrollierten, gelegentlichen Gebrauch und in stabilen Lebenssituationen kann Cannabis durchaus als unterstützende Hilfe genutzt werden.
Mythos 2: Es wirkt bei allen gleich
Schön und praktisch wäre es, doch die Wirkung von Cannabis ist alles andere als einheitlich. Was bei der einen Person entspannend wirkt, kann bei einer anderen Angstzustände oder Unruhe auslösen. Faktoren wie das Alter, die psychische Verfassung, die genetische Veranlagung und das Stresslevel beeinflussen die Wirkung und das Erleben stark. Auch in der medizinischen Anwendung zeigt sich: Cannabis wirkt nicht bei allen gleich gut. Die Wirksamkeit hängt von der Diagnose, der Dosierung und den individuellen Reaktionen ab. Aus diesem Grund ist es wichtig, mit einem Arzt bzw. einer Ärztin über eine mögliche Cannabis-Therapie zu sprechen – nur medizinisches Fachpersonal wie dieses ist in der Lage dazu abzuschätzen, was hilft und was eher nicht.
Ein hilfreiches Werkzeug im Behandlungsverlauf kann dabei ein Patiententagebuch sein. Darin dokumentieren Betroffene zum Beispiel, welche Sorte sie verwendet haben, in welcher Dosierung, wie sich die Symptome im Tagesverlauf verändern und ob Nebenwirkungen auftreten. Diese Selbstbeobachtung ermöglicht nicht nur eine bessere Einschätzung der individuellen Wirkung, sondern hilft auch dabei, Arztgespräche gezielter zu führen und die Cannabis-Therapie kontinuierlich zu optimieren. So werden Patient:innen gewissermaßen zur eigenen Wirkstudie und tragen aktiv zum Erfolg der Behandlung bei.
Mythos 3: Legal = unbedenklich
Legalität ist kein Garant für Sicherheit. Alkohol und Tabak sind ebenfalls legal – und das, obwohl sie zu den gesundheitlich schädlichsten Substanzen weltweit gehören. Auch Cannabis ist nicht per se harmlos, nur weil es in manchen Ländern freigegeben ist. Prof. Dr. Barsch weist darauf hin, dass Legalität eher ein Anlass zur Aufklärung als zur Sorglosigkeit sein sollte.
Wer Cannabis konsumiert, sollte sich unbedingt mit den potenziellen Risiken befassen – dazu zählen unter anderem Beeinträchtigungen der Konzentration, Abhängigkeitsrisiken und Auswirkungen auf die psychische Gesundheit. Nur wer gut informiert ist, kann verantwortungsvoll damit umgehen und die positiven Seiten von Cannabis sicher und bewusst nutzen.
Mythos 4: Es macht nicht abhängig
Nicht ganz falsch, aber eben auch nicht ganz richtig. Cannabis erzeugt in der Regel keine starke körperliche Abhängigkeit wie Heroin oder Alkohol. Allerdings kann es psychisch abhängig machen. Wer regelmäßig konsumiert, entwickelt oft unbewusst Routinen: dann wird Cannabis auf einmal zum Einschlafen, zur Entspannung oder für den Stressabbau eingenommen. Prof. Dr. Barsch spricht von einem „Craving“ – einem gedanklichen Verlangen, das schwer zu durchbrechen sein kann.
Ein solches Craving ist jedoch kein Alleinstellungsmerkmal von Cannabis. Auch bei Medikamenten wie Schlafmitteln, Schmerzmitteln oder Beruhigungstabletten kann sich eine psychische Gewöhnung entwickeln. Entscheidend ist nicht nur die Substanz, die eingenommen wird, sondern auch der Umgang mit dieser. Wer achtsam konsumiert, kann möglicherweise vielen Risiken vorbeugen.
Übrigens: Studien zeigen, dass etwa 9 % der Konsument:innen im Laufe ihres Lebens eine Cannabisabhängigkeit entwickeln – bei Jugendlichen oder täglichem Konsum kann das Risiko auf bis zu 17 % bzw. 25-50 % steigen.1 Zum Vergleich: Die Lebenszeitprävalenz für Alkoholabhängigkeit liegt bei rund 15 %, für Nikotin sogar bei etwa 30 %.2 Das zeigt deutlich, dass Alkohol und Nikotin ein wesentlich höheres Abhängigkeitspotenzial als Cannabis haben. Umso wichtiger ist es, insbesondere im medizinischen Kontext, die Therapie unter ärztlicher Begleitung durchzuführen. Sie hilft dabei, Risiken früh zu erkennen, Dosierungen sinnvoll anzupassen und einer potenziellen Abhängigkeit wirksam vorzubeugen.
Mythos 5: In der Medizin ist das längst Standard
Ja, Cannabis wird in der Medizin eingesetzt, aber dieser Gebrauch ist streng geregelt. In Deutschland bekommt man es beispielsweise nur auf Rezept und meist bei chronischen Schmerzen, bestimmten neurologischen Erkrankungen oder schweren Schlafstörungen. Dabei gilt: Nicht jeder pflanzliche Stoff ist automatisch medizinisch wirksam. Und selbst wenn, dann ist er nicht für alle gleichermaßen geeignet. In der Praxis sind es meist nur ausgewählte Patient:innen, die davon unter ärztlicher Aufsicht profitieren. Cannabis ist kein medizinisches Wundermittel – aber es hat Potenzial. Es kann Schmerzen lindern, Muskelkrämpfe lockern oder den Appetit anregen. Besonders häufig wird es bei chronischen Schmerzen, Multipler Sklerose, Epilepsie oder Chemotherapie-bedingter Übelkeit eingesetzt.
Aber: Es wirkt nicht bei allen gleich gut, ersetzt keine herkömmliche Therapie und sollte immer unter ärztlicher Aufsicht verwendet werden. Prof. Barsch warnt davor, überzogene Erwartungen zu schüren – Cannabis lindert Symptome, heilt aber nicht die Ursache einer Erkrankung.
Mythos 6: Das schadet dem Gehirn nur, wenn man jung ist
Tatsächlich ist das jugendliche Gehirn besonders empfindlich. Regelmäßiger Konsum in der Entwicklungsphase kann zu bleibenden Einschränkungen bei Konzentration und Gedächtnis führen. Doch auch Erwachsene sind nicht immun: Häufiger, hochdosierter Konsum kann auch im Erwachsenenalter Antriebslosigkeit, Stimmungsschwankungen und kognitive Probleme verursachen.
Mythos 7: Darüber muss man nicht reden – jeder macht doch, was er will
Aufklärung ist kein Eingriff in die persönliche Freiheit – sie ist deren Grundlage. Nur wer gut informiert ist, kann souveräne Entscheidungen treffen. Gerade beim Thema Cannabis ist Wissen der Schlüssel: zur Vermeidung von Risiken, zur frühzeitigen Hilfe bei Problemen und zur Entstigmatisierung von Konsument:innen. Prof. Dr. Barsch plädiert deshalb für einen offenen, sachlichen Umgang mit dem Thema – weg von Tabus, hin zu Aufklärung.
Weitere verbreitete Mythen im Faktencheck
#8 Cannabis ist eine Einstiegsdroge
Die Gateway-Theorie bezeichnet die Annahme, dass der Konsum von Cannabis automatisch den Einstieg in den Gebrauch härterer Drogen wie Kokain oder Heroin fördert. Wissenschaftliche Studien widerlegen diese Theorie jedoch: Der Großteil der Cannabiskonsument:innen steigt nicht zwangsläufig auf harte Drogen um. Vielmehr spielen soziale und psychologische Faktoren, wie etwa das Umfeld, Stress oder psychische Erkrankungen, eine entscheidendere Rolle als der bloße Cannabiskonsum selbst.3,4
#9 Eine Legalisierung führt automatisch zu mehr Konsum
Studien aus den USA und Kanada zeigen: Der Konsum Jugendlicher steigt nach einer Legalisierung nicht automatisch. In einigen Fällen ist er sogar zurückgegangen. Entscheidend sind die Begleitmaßnahmen – wie Prävention, Altersgrenzen und kontrollierte Abgabe.5,6,7
#10 Cannabis ist gefährlicher als Alkohol
Ein ganz klarer Irrtum. Alkohol richtet gesundheitlich und gesellschaftlich erheblich größere Schäden an – etwa durch Leberschäden, Suchtpotenzial und Gewalt. Cannabis wirkt hingegen dämpfend, ist kaum toxisch und verursacht keine tödlichen Überdosierungen.8,9
Fazit: Aufklärung statt Panik oder Verharmlosung
Viele Mythen über Cannabis halten sich hartnäckig – nicht, weil sie richtig wären, sondern weil sie einfach und emotional sind. Doch die Wahrheit liegt, wie so oft, dazwischen. Cannabis ist weder ein Teufelszeug noch ein harmloses Wundermittel. Es hat Risiken, aber auch viele Potenziale. Wichtig ist: Informiere dich, hör auf dein Körpergefühl, sprich mit Fachleuten. Denn fundierte Entscheidungen entstehen nicht aus Halbwissen, sondern aus echter Aufklärung.
Disclaimer: Dieser Beitrag dient ausschließlich der sachlichen Information und ersetzt keine medizinische Beratung. Die Inhalte basieren auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen, erheben jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Bei gesundheitlichen Fragen oder zur Klärung einer möglichen Therapie mit medizinischem Cannabis wende dich bitte an qualifiziertes medizinisches Fachpersonal.
Quellen:
[1] https://www.barmer.de/gesundheit-verstehen/medizin/cannabis/abhaengigkeit-entzug-1132250 abgerufen am 23.05.2025.
[2] https://www.purgruen.de/blogs/magazin/cannabis-statistiken abgerufen am 23.05.2025.
[3] https://nida.nih.gov/research-topics/cannabis-marijuana abgerufen am 23.05.2025.
[4] Williams AR. Cannabis as a Gateway Drug for Opioid Use Disorder. J Law Med Ethics. 2020 Jun;48(2):268-274.
[5] Nguyen HV, Mital S, Bornstein S. Short-Term Effects of Recreational Cannabis Legalization on Youth Cannabis Initiation. J Adolesc Health. 2023 Jan;72(1):111-117.
[6] Bailey JA, Tiberio SS, Kerr DCR, Epstein M, Henry KL, Capaldi DM. Effects of Cannabis Legalization on Adolescent Cannabis Use Across 3 Studies. Am J Prev Med. 2023 Mar;64(3):361-367.
[7] https://www.canada.ca/en/health-canada/services/drugs-medication/cannabis/laws-regulations/cannabis-act-legislative-review/expert-panel/legislative-review-cannabis-act-report.html abgerufen am 23.05.2025.
[8] https://portal.uni-koeln.de/universitaet/aktuell/koelner-universitaetsmagazin/unimag-einzelansicht/alkohol-oder-cannabis abegrufen am 23.05.2025.
[9] https://www.apotheken-umschau.de/news/was-ist-schaedlicher-alkohol-oder-cannabis-834325.html abgerufen am 23.05.2025.