Cannabis und das zentrale Nervensystem | GH Academy

Bei der Anwendung von medizinischem Cannabis sind multiple, direkte Effekte auf die Nervenaktivität des Menschen beobachtbar. Es gibt zwei unterschiedliche Nervensysteme: Zum einen das zentrale Nervensystem mit einer vergleichsweise hohen Anzahl an Bindungsstellen für Cannabinoide, den sogenannten Cannabinoid-Rezeptoren (CB-Rezeptoren), und zum anderen das periphere Nervensystem mit einer deutlich geringeren Dichte an CB-Rezeptoren. Im folgenden Beitrag sollen die Auswirkungen auf das zentrale Nervensystem im Vordergrund stehen.


Der Cannabinoid-1-Rezeptor

CB1-Rezeptoren sind im gesamten menschlichen Körper nachweisbar. Besonders häufig kommen sie im Gehirn und in der Wirbelsäule, sprich dem zentralen Nervensystem, vor. Im Gehirn sind CB1-Rezeptoren vor allem in den Basalganglien, aber auch im Hippocampus, im Kleinhirn und im Hypothalamus zahlreich vorhanden. Viele Regionen mit einer hohen CB1-Rezeptordichte sind mit bestimmten kognitiven Funktionen verbunden: Beispielsweise die Flucht-Angriff-Reaktion, aber auch das Kurzzeitgedächtnis, die Motorik, die Schmerzverarbeitung und die Konzentrationsfähigkeit1, 2. Generell befinden sich besonders viele CB1-Rezeptoren an den Enden von Nervenzellen, wodurch Effekte auf die Reizweiterleitung vermittelt werden. Drei Regionen im menschlichen Gehirn besitzen keine CB1-Rezeptoren: Zum einen die Medulla oblongata und der Hirnstamm1. Diese beiden Regionen steuern Prozesse, die bei der Atmung und der Regulation des Herz-Kreislauf-Systems beteiligt sind. Zum anderen befinden sich im mesolimbischen System keine CB1-Rezeptoren. Das mesolimbische System beinhaltet das menschliche Belohnungssystem, dessen Aktivierung bewirkt die Ausschüttung von Dopamin, was letztlich zu einer körperlichen Abhängigkeit führen kann. Da eine Aktivierung aufgrund des Fehlens von CB1-Rezeptoren nicht erfolgt, kommt es bei der Einnahme von Cannabis nicht zu einer körperlichen Abhängigkeit. Starke Bindungspartner des CB1-Rezeptors, die zu einer Aktivierung desselbigen führen, sind die Endocannabinoide Anandamid und 2-Arachidonylglycerol (2-AG) sowie das Phytocannabinoid THC3.

Der Cannabinoid-2-Rezeptor

CB2-Rezeptoren stehen weniger im Fokus als CB1-Rezeptoren. Ein starker Bindungspartner des CB2-Rezeptors ist das CBD. Während THC vorwiegend neurologische Effekte ausübt, indem es an CB1-Rezeptoren bindet, vermittelt CBD seine Wirkung durch die Bindung an CB2-Rezeptoren. Diese befinden sich hauptsächlich im Immunsystem, vor allem der Milz, den Mandeln und in den peripheren Nerven. CB2-Rezeptoren sind dabei vor allem mit der entzündungshemmenden Wirkung des Cannabis verknüpft. Immunologisch betrachtet führt die Aktivierung der CB2-Rezeptoren zu einer Unterdrückung des Immunsystems etwa durch eine modulierte Ausschüttung von Zytokinen2. Dadurch können beispielsweise Autoimmunerkrankungen und Allergien behandelt werden. Viele Krankheiten haben ihren Ursprung in entzündlichen Prozessen. Somit kann Medizinalcannabis zum therapeutischen Einsatz bei Erkrankungen wie Multipler Sklerose und Parkinson kommen.

Einfluss von THC auf das zentrale Nervensystem

Das ZNS, bestehend aus Gehirn und Rückenmark, ist an der Steuerung von Stimmung, Gedanken, Emotionen und Bewegung beteiligt. Innerhalb des Körpers werden Signale über Nervenzellen weitergeleitet. Elektrische Reize werden in chemische Signale umgewandelt und gelangen so vom Sinnesorgan an das Gehirn. An dem Prozess ist eine Vielzahl an chemischen Verbindungen beteiligt, um die komplexen Vorgänge zu steuern.
THC, welches hauptsächlich den CB1-Rezeptor aktiviert, beeinflusst die neuronale Kommunikation und Signalübertragung auf verschiedene Weisen:

  • Freisetzung von Neurotransmittern
Endocannabinoide wirken nicht wie die meisten Neurotransmitter oder Endorphine vom prä- zum post-synaptischen Nervenende, sondern umgekehrt4. Dies wird als retrograder Kontrollmechanismus bezeichnet. Endocannabinoide wirken funktionell dabei ähnlich dämpfend auf die Reizweiterleitung wie Endorphine und verursachen somit veränderte Stimmungs- und Verhaltenseffekte.
Eine nähere Betrachtung der Weiterleitung von Schmerzreizen verdeutlicht diesen Prozess: Ein Schmerzreiz löst in Nervenfasern ein Aktionspotenzial aus. Dieses elektrische Signal löst am Ende der Nervenzelle die Freisetzung von erregenden Neurotransmittern aus, wodurch es in ein chemisches Signal umgewandelt wird. Die Neurotransmitter gelangen über den synaptischen Spalt zur postsynaptischen Membran der nachfolgenden Nervenzelle und depolarisieren diese. Dadurch wird der Reiz in Form von elektrischen Impulsen weitergleitet. Die Depolarisation führt jedoch auch zur Synthese von Endocannabinoiden. Diese werden in entgegengesetzte Richtung in den synaptischen Spalt abgegeben. Dort führen sie zu einer Aktivierung von präsynaptischen CB1-Rezeptoren und somit zum retrograden Signal2. In der Folge wird die Freisetzung weiterer Neurotransmitter gebremst und der Reizstrom abgeschwächt. Die Aktivierung des CB1-Rezeptors verändert auch die Aktivität der Adenylatcyclase und die Öffnung von Ionenkanälen2. Aufgrund der chemischen Ähnlichkeit wirkt THC analog zu den Endocannabinoiden und vermittelt folglich die gleichen Effekte.

Wie verringert THC die Freisetzung von Neurotransmittern?

Die Adenylatcyclase ist ein wichtiges Enzym, welches die Umwandlung von Adenosintriphosphat (ATP) zu cyclischem Adenosinmonophasphat (cAMP) in Nervenzellen katalysiert. cAMP agiert als sogenannter sekundärer Botschafter, der unter anderem zur Öffnung von Kaliumkanälen an den Nervenzellen führt. Die Aktivierung des CB1-Rezeptors durch die Bindung von THC hemmt die Adenylatcyclase5 und führt somit letztlich zum Schließen der Kaliumkanäle. Dies wiederum vermindert die Freisetzung von Neurotransmitter und somit auch die Reizweiterleitung6.
Neben den Kalium-Kanälen übt THC auch einen Effekt auf die Öffnung anderer spannungsabhängiger Ionenkanäle, den Calcium- und Natriumkanälen. Diese Kanäle sorgen dafür, dass erregende und hemmende Neurotransmitter wie GABA, Acetylcholin, Noradrenalin und L-Glutamat verringert abgegeben werden und die Reizweiterleitung gestört wird.

Beeinflussung der synaptischen Plastizität

THC kann die synaptische Plastizität, die Fahrigkeit von Neuronen, ihre Verbindungen zu ändern, beeinflussen. Dies kann Auswirkungen auf die Lern- und Gedächtnisprozesse haben.

THC gegen das neuronale Ungleichgewicht

Eine häufig wiederholte Erregung von Nervenzellen führt zu einer Verstärkung der Reizübertragung. In der Folge kann es dazu kommen, dass sich der Prozess verselbstständigt und beispielsweise Schmerzimpulse an das Gehirn gesendet werden, ohne dass es einen auslösenden Reiz gibt. Endocannabinoide sind an dem neuronalen Regulationsmechanismus beteiligt4. Es ist daher möglich, dass durch den therapeutischen Einsatz von Cannabinoiden die gesteigerte neuronale Aktivität wieder in ein Gleichgewicht gebracht werden kann2.

THC und der Hunger

Neben den bereits aufgezählten Effekten in der Reizweiterleitung, bewirkt Cannabis auch die häufig beschriebenen Heißhungerattacken. Hunger ist ein Gefühl, welches seinen Ursprung im Hypothalamus hat. Benötigt der Körper Nahrung, so werden Signale ausgesandt, die im Hypothalamus zu einer gesteigerten Ausschüttung des Endocannabinoids Anandamid führen. Dieses bindet an CB1-Rezeptoren und löst schlussendlich das Hungergefühl aus. Aufgrund der chemischen Ähnlichkeit löst THC den gleichen Effekt aus und führt zur Appetitsteigerung7.

THC und der Lachflash

Sehr häufig wird der Effekt beobachtet, dass es nach der Einnahme eines THC-haltigen Präparates zu so genannten Lachflashes kommt. Lachen hat biochemisch betrachtet etwas mit dem Glücksgefühl zu tun. Freude und Tiefenentspannung spürt der Mensch vor allem infolge der Ausschüttung des Neurotransmitters Dopamin, welcher wiederum das Belohnungszentrum im Gehirn aktiviert. Die gleichzeitige Ausschüttung des Neurotransmitters GABA führt dazu, dass nicht unendlich viel Freude empfunden wird, sondern dosiert. THC bewirkt im Körper eine Hemmung der GABA-Ausschüttung, wodurch demzufolge Dopamin ungehemmt in hoher Konzentration ausgeschüttet wird. Die Ursache dafür liegt in der bereits oben beschriebenen Rezeptorbindung an der präsynaptischen Membran, welche die verminderte bzw. gehemmte Ausschüttung von GABA bewirkt3.

Einfluss von CBD auf das zentrale Nervensystem

Im Gegensatz zu THC ist CBD ein nicht-psychoaktives Cannabinoid und hat eine geringe Affinität zu den CB1- und CB2-Rezeptoren. Stattdessen wirkt CBD auf verschiedene andere Rezeptoren und Systeme im zentralen Nervensystem. Die Auswirkungen von CBD auf die neuronale Kommunikation und Signalübertragung sind komplex und noch nicht vollständig verstanden. Einige der bekannten Wirkungen von CBD sind:
  • Modulation der CB1-Rezeptoren: CBD kann die Aktivität der CB1-Rezeptoren indirekt modulieren, indem es die Bindung von THC an diese Rezeptoren beeinflusst. Dies kann die psychoaktiven Effekte von THC abschwächen3.
  • Einfluss auf andere Rezeptoren und Kanäle: CBD interagiert mit einer Vielzahl von Rezeptoren und Kanälen im zentralen Nervensystem, einschließlich des Serotonin-Rezeptors 5-HT1A9 und des Vanilloid-Rezeptors TRPV110. Diese Interaktionen können entzündungshemmende, angstlösende und schmerzlindernde Wirkungen haben3.
  • Neuroprotektive Eigenschaften: CBD hat neuroprotektive Eigenschaften gezeigt, indem es vor neurodegenerativen Erkrankungen und oxidativem Stress schützt. Dies kann die neuronale Gesundheit und Kommunikation unterstützen11.

Fazit

Es ist wichtig anzumerken, dass die Wirkungen von THC und CBD auf die Aktivierung der Cannabinoid-Rezeptoren und die neuronale Kommunikation komplex sind und von vielen Faktoren abhängen, einschließlich der Dosis, der individuellen Empfindlichkeit und der Wechselwirkungen mit anderen Neurotransmittersystemen. Weitere Forschung ist erforderlich, um ein umfassendes Verständnis dieser Mechanismen zu erlangen und ihre klinischen Auswirkungen besser zu verstehen.

Quellen

[1] https://www.pharmazeutische-zeitung.de/inhalt-06-2005/titel-06-2005/ abgerufen am 15.06.2023
[2] Dingermann T. Grundlagen der Pharmakologie von Cannabinoiden. Schmerzmed. 2021;37(Suppl 1):8–13.
[3] Müller-Vahl, K. und Grotenhermen, F.: Cannabis und Cannabinoide in der Medizin. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, 2020.
[4] https://www.pharmazeutische-zeitung.de/inhalt-42-2001/pharm10-42-2001/ abgerufen am 15.06.2023
[5] Condie, R., Herring, A., Koh, W. S., Lee, M., & Kaminski, N. E. (1996). Cannabinoid inhibition of adenylate cyclase-mediated signal transduction and interleukin 2 (IL-2) expression in the murine T-cell line, EL4.IL-2. The Journal of biological chemistry, 271(22), 13175–13183.
[6] Kendall DA, Yudowski GA. Cannabinoid Receptors in the Central Nervous System: Their Signaling and Roles in Disease. Front Cell Neurosci. 2017 Jan 4; 10:294.
[7] Koch, M., Varela, L., Kim, J. et al. Hypothalamic POMC neurons promote cannabinoid-induced feeding. Nature 519, 45–50 (2015).
[8] https://www.hanf-magazin.com/medizin/cannabismedizin-allgemein/synaptische-wirkungsweise-von-cannabis/ abgerufen am 15.06.2023
[9] Russo, E. B., Burnett, A., Hall, B., & Parker, K. K. (2005). Agonistic properties of cannabidiol at 5-HT1a receptors. Neurochemical research, 30(8), 1037–1043.
[10] Anand U, Jones B, Korchev Y, Bloom SR, Pacchetti B, Anand P, Sodergren MH. CBD Effects on TRPV1 Signaling Pathways in Cultured DRG Neurons. J Pain Res. 2020 Sep 11;13:2269-2278.
[11] Fernández-Ruiz J, Sagredo O, Pazos MR, García C, Pertwee R, Mechoulam R, Martínez-Orgado J. Cannabidiol for neurodegenerative disorders: important new clinical applications for this phytocannabinoid? Br J Clin Pharmacol. 2013 Feb;75(2):323-33. 

Autor: Dr. Nadine Herwig
Dr. Nadine Herwig - Leiterin Grünhorn Academy
Dr. Nadine Herwig studierte von 2006 bis 2010 Angewandte Naturwissenschaften an der Technischen Universität Bergakademie Freiberg. Ihre Promotion führte sie am Helmholtz-Zentrum in Dresden-Rossendorf am Institut für Radiopharmazie durch. Zu ihren bislang publizierten wissenschaftlichen Arbeiten gehören u. a. Originalartikel auf dem Gebiet der Hautkrebsforschung und der Biomarker.